Der Bußaufruf von Dierk Schäfer – ein Interview
Herr Pastor Schäfer, nennt man Sie Pastor oder Pfarrer? Worin liegen die Unterschiede?
Meine korrekte Amtsbezeichnung ist Pfarrer im Ruhestand. Ob Pfarrer oder Pastor ist von Landeskirche zu Landeskirche verschieden, meint aber dasselbe.
Vor einem Jahr haben Sie zur Buße aufgerufen. Wen?
Mein Bußaufruf richtete sich an die beiden Großkirchen in Deutschland und die ihnen zugerechneten Einrichtungen in Diakonie und Caritas, dazu auch an die
Ordensgemeinschaften.
Hat Ihr Bußaufruf noch Gültigkeit?
Ja, natürlich. Als Termin hatte ich den diesjährigen Buß- und Bettag genannt, wahlweise denTag der unschuldigen Kindlein, das ist der Gedächtnistag für
die angeblich von Herodes ermordeten Säuglinge und Kleinkinder in Bethlehem, der 28. Dezember. Da es nicht danach aussieht, daß die Kirchen dem Bußaufruf Folge leisten, ist er zwar in seinem Kern ignoriert
worden, aber damit nicht ungültig. Buße, also Umkehr von falschem, von sündhaftem Tun und überzeugend tätige Reue sind immer nötig, in diesem Fall jedoch nach wie vor von besonderer Dringlichkeit, weil es
Opfer gibt, die noch heute unter den Folgen ihres Aufenthalts in kirchlichen Einrichtungen leiden.
Wieviele Reaktionen haben Sie erhalten?
Unterstützt haben den Bußaufruf als Petition an die Kirchen bis heute 240 Personen. Reaktionen vonseiten kirchlicher Stellen gab es nur wenige. Zumeist
bedauerte man einerseits das Geschehene, verwies ansonsten aber auf die Beratungen am Runden Tisch. In kirchlicher Tradition gesprochen gab es, und das unabhängig von meinem Bußaufruf, eine Artun ausgereifter Reue
inform von Betroffenheitsgesten, teilweise sogar Schuldbekenntnissen, doch zur ausgereiften Reue, der contritio, gehört mehr – und dazu hatte ich aufgerufen.
Welche Reaktionen haben Sie besonders berührt?
Zum einen manche Reaktion von ehemaligen Heimkindern, auch die Unterstützung von nicht-Betroffenen. Belustigt hat mich die Reaktion eines Kollegen, der
meinte, mir sozusagen augenzwinkernd mitteilen zu sollen, er wisse auch, wie man Öffentlichkeitsarbeit macht.
Haben Sie Heimopfer unter den Eintragungen zum Bußaufruf in Ihrem Blog entdeckt?
Ja, sie haben sich „geoutet“, wie man heute sagt. Das können Sie nachlesen unter http://www.petitiononline.com/mod_perl/signed.cgi?heimkids
Wieviele Pfarrer oder Pastoren haben mit direktem Eintrag oder in privater Korrespondenz auf Ihren Bußaufruf reagiert?
Das kann ich nicht genau sagen, weil für die Petition nicht nach dem Beruf gefragt wurde.Dort sind es mindestens fünf, von denen ich es genau weiß. Ein
paar Reaktionen, aber auch nur ganz wenige, erhielt ich auf meinen Beitrag Scham und Schande im Deutschen Pfarrerblatt. Nachzulesen unter http://dierkschaefer.files.wordpress.com/2010/05/essay- pfarrerblatt.pdf . Besonders gefreut hat mich, daß eine Kollegin diesen Beitrag kopiert hat, einem ehemaligen Heimkind gab und ihm sagte: Das ist Ihre Geschichte. Er nahm daraufhin Kontakt mit mir auf – und anscheinend konnte ich ihm sogar ganz konkret helfen.
Worauf führen Sie die erschreckend geringe Zahl theologischer Reaktionen zurück?
Wenn Sie mit der Frage die geringe Zahl von unterstützenden Pfarrern meinen: Manche sehen wohl ein Problem in der Loyalität gegenüber ihrem Dienstherrn.
Ein von mir durchaus geschätzter Kollege antwortete mir, „wir Pfarrer“ seien wohl die letzten, die ihre Kirche zur Buße rufen könnten. Ich antwortete: Wer, wenn nicht wir? Wenn Sie die ausgebliebenen
theologischen Reaktionen meinen, also die immer noch ausstehende theologische Aufarbeitung kirchlicher Heimerziehung, dann dürfte wohl ein Problem darin gesehen werden, daß es geradezu ans „Eingemachte“ geht.
Auf dem Prüfstand stehen nicht nur die pädagogischen „Heiligen“ beider Kirchen, also die Gründerväter der Heimeinrichtungen, die zu unanfechtbaren Vorbildern tätiger Menschenliebe stilisiert worden sind,
sondern mehr noch: es geht um die mangelnde Diesseitsorientierung einer Theologie, die das Leben auf Erden nur als Vorstufe zum eigentlichen, also ewigen Leben erkennt und vor radikalen Maßnahmen folgerichtig nicht
zurückschreckt. Das sind zwar eher die Probleme von vorgestern, doch man will an die Vergangenheit nicht ran. Wie lebendig solche Denkweisen heute wieder sind, erleben wir zur Zeit allerdings im islamistischen
Fundamentalismus, der eigenes und fremdes Leben zugunsten des (eigenen) sicheren Paradieses opfert.
Seit wieviel Jahren setzen Sie sich für ehemalige Heimkinder ein?
Das begann etwa im Jahr 2000 mit meinen Kriegskindertagungen an der Evangelischen Akademie Bad Boll. Dort lernte ich zum ersten Mal bewußt ehemalige
Heimkinder und ihreTraumatisierungen kennen.
Welches Erlebnis eines Heimkindes hat Spuren bei Ihnen hinterlassen?
Da müßte ich eine ganze Reihe von Episoden berichten, die mir eine Gänsehaut über den Rücken laufen ließen.
Sie schrieben irgendwann, dass Sie unangemeldet beim Runden Tisch unter Vorsitz von Dr. Antje Vollmer erschienen. Wie war das? Wie reagierten die
Tischmitglieder?
Das Gerücht scheint unausrottbar. Ich erschien nicht unangemeldet, sondern wurde zur Anhörung eingeladen und meine Auslagen wurden vom Runden Tisch
erstattet. Wie die mir zu dieser Zeit nicht bekannten Teilnehmer am Runden Tisch reagierten, kann ich nicht sagen. Die Anhörung war eine Anhörung, mehr nicht. Es gab lediglich eine Rückfrage von Frau Rupprecht
(MdB). Da ein echter Meinungsaustausch nicht vorgesehen und ich auch nicht zu den weiteren Tagesordnungspunkten an diesem Termin des Runden Tisches zugelassen war, hatte ich mir nicht mehr Zeit genommen, als
unbedingt nötig. Ich bin am selben Tag wieder heimgefahren. Ein eher unerfreuliches Erlebnis.
Am Runden Tisch haben Sie Ihre „Verfahrensvorschläge zum Umgang mit den derzeit diskutierten Vorkommnissen in Kinderheimen in der Nachkriegszeit in Deutschland“erläutert. Erhielten Sie irgendeine Reaktion?
Nein.
Wie schätzen Sie die bisherige Selbstdarstellung der Heimopfer ein? Haben die Grabenkämpfe untereinander den Opfern geschadet? Warum?
Zum Glück haben wohl nur Insider das unerträgliche und abträgliche Hick-Hack der ehemaligen Heimkinder wahrgenommen. Dennoch hat es ihnen geschadet, denn
das hat es dem Runden Tisch leicht gemacht hat, die Regularien nach Gutsherrenart zu bestimmen.
Sie betreiben einen Blog, das das Thema Heimopfer beinhaltet. Wird das Thema ausreichend im Internet behandelt?
Da ich mich nur selten in die Foren verirre, kann ich dazu wenig sagen. Mein Google-AlertHeimkinder bringt mir eine Menge Meldungen, mein Blog taucht im Alert
allerdings nie auf.
Eine ganz persönliche Frage: Hat die Beschäftigung mit dem Leid vieler Heimkinder vor 40bis 60 Jahren Ihr Leben verändert?
Ja. Zum Beispiel dominiert die Heimkindersache meinen Blog – das hatte ich nicht sogeplant.
Stehen Sie auf Kriegsfuß mit Ihrer Kirche? Was würden Sie ihr anraten?
Wenn ich mit meiner Kirche auf dem Kriegsfuß stünde, würde ich sie nicht verteidigen, wenn sie unsachgemäß angegriffen wird. Ich hätte auch keinen
Bußaufruf verfaßt, sondern ein Pamphlet.
Sind die Kirchen noch glaubwürdig?
Das ist zu pauschal gefragt. Doch die Kirchen haben stark an Glaubwürdigkeit eingebüßt, wobei das Wort eingebüßt interessant ist, denn da steckt Buße
drin. Einbußen erleidet man, tut man jedoch aktiv Buße, bewahrt man seine Handlungsfreiheit und seine Glaubwürdigkeit, das kapieren die Kirchen leider nicht.
Warum sind Sie einer der wenigen in kirchlichen Diensten Stehenden, die dieses eklatanteVersagen der Kirchen bearbeiten?
Das wüßte ich auch gern.
Was würde Jesus zu der Feigheit seines „Bodenpersonals“ sagen?
Das ist eine hypothetische Frage, zudem enthält sie eine unbelegte Annahme. Ich weiß nicht,ob es sich um Feigheit handelt.
Wie verträgt sich die „Frohe Botschaft Jesu Christi“ mit dem Umgang der Kirchen mit ihren Heimopfern?
Natürlich verträgt sich das nicht miteinander. Hier müßte nun die theologische Arbeit ansetzen: Wie konnte
es zu diesen Verbrechen kommen? Welchen Anteil hatte die damals herrschende theologische Meinung daran? War das Ganze vielleicht nicht nur zeitbedingt, sondern offenbart es einen grundlegenden Fehler im „System“ von (christlicher) Religion? Den ehemaligen Heimkindern werden solche Gedanken weitgehend egal sein, doch als Theologe und Seelsorger würde ich mich freuen, wenn sich die Theologie endlich dieses Themas annehmen würde. Ich will demnächst in meinem Blog etwas dazu schreiben, weiß aber, daß es nicht darauf ankommt, was gesagt wird, sondern wer es sagt. Ich bin nur ein einfacher Pfarrer.
Fragen: Helmut Jacob
06. 11. 2010
http://www.petitiononline.com/heimkids/petition.html
http://www.petitiononline.com/mod_perl/signed.cgi?heimkids
http://dierkschaefer.files.wordpress.com/2010/05/essay-pfarrerblatt.pdf
http://dierkschaefer.files.wordpress.com/2009/04/verfahrensvorschlage-rt.pdf
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