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Liebe ehemaligen Mitschülerinnen!
Liebe ehemaligen Mitschüler!
Liebe Mitglieder der „Freien Arbeitsgruppe JHH 2006“!
Gestatten Sie mir einen ganz persönlichen Ostergruß. Einige Zeilen, die nicht abgesprochen sind und darum auch nicht die Meinung der gesamten Arbeitsgruppe
widerspiegeln.
Fünf Jahre Aufarbeitung der Greueltaten und Verbrechen im Johanna-Helenen-Heim und anderen Häusern der damaligen Orthopädischen Anstalten Volmarstein.
Welch ein unrühmliches Jubiläum! Ich will jetzt nicht noch einmal ausbreiten, wie alles begann. Es ist auf der Homepage dokumentiert.
In diesen fünf Jahren ist viel passiert. Verbrechen an den Hilflosesten der Gesellschaft, nämlich an behinderten Kleinkindern und Schulkindern, kamen zu
Tage. Sie wurden durch die Arbeitsgruppe selbst und durch die Historiker Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl und Dr. Ulrike Winkler im Auftrage der heutigen Evangelischen Stiftung Volmarstein dokumentiert. Die Ergebnisse
ähneln sich, was ein gutes Zeichen ist, nämlich dafür, daß die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“ sauber gearbeitet hat.
Unsere Arbeit nähert sich dem Ende zu. Unsere Forderungen liegen seit Jahren auf dem Tisch, wurden öfter wiederholt, sind den kommunalen und überörtlichen
Trägern der Sozialhilfe, der Evangelischen Kirche und der Evangelischen Stiftung Volmarstein bekannt. Darum gibt es nichts mehr zu schreiben. Soeben wurden die letzten Erinnerungsschreiben an den Bürgermeister der
Stadt Wetter, an den Landrat des Ennepe-Ruhr-Kreises und an die Direktoren der Landschaftsverbände Westfalen-Lippe und Rheinland versandt. Diese Stellen haben bisher auf unser Schreiben vom 6. Februar 2011 nicht
reagiert. Ob eine Antwort kommt, bleibt abzuwarten. Wenn sie kommt, wird sie auch hier auf dieser Homepage zu finden sein.
Weil die Evangelische Kirche und das Diakonische Werk sich hinter den Empfehlungen des „Runden Tisches Heimerziehung“ verschanzen und unsere „speziellen
Probleme“ bei der Evangelischen Stiftung Volmarstein angesiedelt sehen, haben wir nunmehr den Vorstandsprecher Pfarrer Dittrich in einem Brief mit unserer Forderung über 300 Euro Opferrente für etwa 12 Personen
- 12 ehemaligen Schüler und Schülerinnen, die uns ihr Leid erzählt haben - konfrontiert. Laut Beschluß unserer Gruppe im vergangenen Jahr beläuft sich unsere Forderung nach Opferrente auf 400 Euro, da
Behinderte bekannterweise auf Hilfe angewiesen sind und daher einen höheren Bedarf haben. Bei dieser Berechnung gingen wir bisher davon aus, daß ein Teil dieser Forderungen durch die Stadt Wetter, durch den
Ennepe-Ruhr-Kreis, durch die Landschaftsverbände und durch das Diakonische Werk als Rechtsnachfolger der Inneren Mission abgegolten wird. Ob dies passiert, wissen wir nicht. Es sieht nicht danach aus.
So haben wir nun unsere Forderungen gegenüber der Evangelischen Stiftung Volmarstein auf 300 Euro Opferente reduziert. Ein vergleichsweise bescheidenes
Begehren für all die Qualen und Verbrechen, unter denen behinderte Kinder und Schüler in Volmarstein unter dem Kronenkreuz leiden mußten. Damit ist kein weiterer Briefverkehr mehr nötig. Wie immer auch die
Antworten auf unsere Schreiben ausfallen, sie werden auf der Homepage zu lesen sein.
Einige Aufgaben bleiben unerledigt. Bereits zu Beginn der Aufarbeitung durch die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“ wurde das Thema „sexuelle Gewalt an
behinderten Schülerinnen und Schülern“ gestellt. Dieser Punkt wird sowohl in unserem Zwischenbericht, als auch im Buch der Historiker Schmuhl und Winkler nur unzureichend behandelt. Zu groß ist die Scham der
Betroffenen, über diesen Komplex der Gewalt zu sprechen.
Ein anderes Thema bleibt fast völlig auf der Strecke, nämlich das der Gewalt an den Kleinkindern in den damaligen Orthopädischen Anstalten Volmarstein. Wir
wissen, daß im Johanna-Helenen-Heim eine Kleinkinderstation untergebracht war und in der Orthopädischen Klinik Volmarstein ebenso. Daß dort Gewalt stattgefunden hat, ist bekannt. Der Umfang konnte nicht ermittelt
werden. Hospitalistische Schäden werden noch heute von ehemaligen Kleinkindern dieser Stationen bekundet, beispielsweise das In-den-Schlaf-Wackeln. Dabei wird der Kopf von einer Kopfkissenseite zur anderen
gewälzt. Auch mir sind Fälle aus Erzählungen bekannt, von Kleinkindern, die schwer mißhandelt wurden. Auf eine Dokumentation musste verzichtet werden, weil Bestätigungen durch andere Mitbewohner nicht mehr
zusammengetragen werden konnten. Viele ehemalige Kleinkinder sind inzwischen verstorben oder haben diese Zeit völlig verdrängt. Ein ehemaliger Schüler berichtet jedoch ganz anschaulich, wie ein Kind auf der
Kleinkinderstation den Kalk aus den Wänden „gepopelt“ hat. Auch wurden die Kinder in Reihe abgetopft und teilweise bestraft, wenn sie kein „großes Geschäft“ erledigt hatten. In Erinnerung bleibt auch die
Schilderung eines Ehemaligen, daß er mit anderen Kindern in der Mittagszeit zwei bis drei Stunden um einen Tisch herumsitzend verharren mußte, ohne spielen und ohne reden zu dürfen.
Dieses Kapitel bleibt unbearbeitet, auch darum, weil Kleinkinder sich nicht erinnern können, weil sie in ihrem späteren Leben nicht wissen, woher sie ihre
Schäden haben, weil sie nie die Chance zur psychologischen Aufarbeitung bekamen. Sie sind die Stummen der Gesellschaft. Dr. Carlo Burschel hat sich dieses Themas angenommen und dokumentiert, welche Folgen
Vernachlässigungen von Kleinkindern haben.
Schon frühzeitig haben wir den Blick über den Tellerrand gewagt, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, in unserem Leid zu ersticken. Wir wollten
aufzeigen, daß in Volmarstein nicht die einzige Zelle von Gewalt und Verbrechen zu finden war, sondern sich diese über das ganze Land erstreckten. In diesem Zusammenhang habe ich unzählige weitere grausame
Geschichten, oft detailliert, gelesen. Im Zusammenhang mit der Aufarbeitung am „Runden Tisch Heimerziehung“ habe ich viel Lug und Trug, Heuchelei, Verharmlosung, Verniedlichung, Darstellung und Verbreitung von
Unwahrheiten, Unterdrückung von Fakten und Verbiegung von Begriffen erlebt. Zuletzt konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß der Runde Tisch fast geschlossen zwei Jahre gegen die Heimopfer und ihre
berechtigten Ansprüche gekämpft hat.
Fünf Jahre intensive Arbeit an diesem Thema hinterlassen Spuren. Und bevor ich mit diesem Erlebten und dem Verarbeiten des Erlebten meinen Mitmenschen zur
Last werde, nutze ich dieses traurige Jubiläum nun, um meine Aufgabe als Sprecher der „Freien Arbeitsgruppe JHH 2006“ wieder an die Gruppe zurückzugeben, mich in die zweite Reihe einzugliedern. Wie oben schon
erwähnt: Es gibt nichts mehr zu tun; alles, was noch an Erklärung nötig ist, ist Aufgabe der Öffentlichkeitsarbeit und hier hat sich unser Klaus Dickneite als hervorragender Pressesprecher erwiesen. Ihm danke
ich an dieser Stelle herzlich.
Euch, liebe Gruppenmitglieder, danke ich für Eure kollegiale Zusammenarbeit, dafür, daß Ihr mir immer auch ein Stück Handlungsfreiheit gegeben habt. Euch,
ehemalige Mitschüler und Mitschülerinnen, danke ich für Euer Vertrauen, das Ihr in mich gesetzt habt. Und allen denen, die ich befragt, mit denen ich lange, intensive Gespräche geführt habe, denen ich Fragen
stellen mußte, die manchmal die Grenze des Zumutbaren überschritten, danke ich für die Offenheit, die es letztendlich ermöglichte, diese Dokumentationen des Leides in den 50er und 60er Jahren in den
Volmarsteiner Anstalten zu erstellen.
Zuletzt noch einige Worte des Dankes an Persönlichkeiten außerhalb unseres Rahmens der Aufarbeitung der Geschehnisse in Volmarstein: In den vergangenen
fünf Jahren habe ich Menschen kennengelernt, die wahre Größe zeigen. Da ist der Pfarrer im Ruhestand Dierk Schäfer aus Bad Boll, der auf der Seite der Heimopfer steht, auch wenn er aus diesem Kreis zuweilen
angegriffen wurde. Da ist Professor Dr. Manfred Kappeler, der schonungslos analysiert hat, mit welchen Tricks der „Runde Tisch“ versucht, die Ansprüche der Opfer abzuwimmeln. Da sind die vielen Journalisten von
Rundfunk und Fernsehen, die das Thema in Erinnerung halten. Und da ist das eine oder andere Heimopfer selbst, das seine Freizeit in den Dienst der Aufarbeitung dieser unrühmlichen Nachkriegsgeschichte
gestellt hat.
Ihnen und Euch allen bleibe ich herzlich und dankbar verbunden! Ihnen und Ihren Familien wünsche ich besinnliche und trotzdem fröhliche Ostertage. Ich
hoffe, daß sich die Freude über die Auferstehung auf uns überträgt und wir eine Rückkehr des Heiligen Geistes erleben.
Helmut Jacob
16. April 2011
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