Freie Arbeitsgruppe JHH 2006
Sprecher:
Helmut Jacob 8. Juli 2007
Liebe ehemalige Mitschülerin, lieber ehemaliger Mitschüler!
Liebe ehemalige Diakonische Helferin, lieber ehemaliger Diakonenschüler!
Aus der Presse werden Sie wahrscheinlich erfahren haben, dass die
Gräueltaten in Kinderheimen in der Zeit zwischen 1953 und 1970 - und damit verbunden auch das Johanna-Helenen-Heim – in den OAV zunehmend ins Blickfeld der Öffentlichkeit gelangt. Sie werden sich fragen, warum nach
ca. 50 Jahren diese Vergangenheit noch einmal beleuchtet wird. Der Grund ist, um es auf einen kurzen Nenner zu bringen, weil diese Zeit unaufgearbeitet geblieben ist. Vor über einem Jahr dokumentierte Peter
Wensierski, Spiegel-Redakteur, in seinem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ die Gewaltexzesse in Erziehungseinrichtungen vornehmlich in Trägerschaft der Kirchen etwa in dem gleichen Zeitraum. Sofort wurde deutlich,
dass die Rechtsträger der betroffenen kirchlich geführten Einrichtungen jegliche Konfrontation mit ihrer düsteren Vergangenheit verhindern wollten.
Zu ihrem Entsetzen hat sich allerdings beispielsweise der
Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Dr. Huber, nicht nur öffentlich für diese Vergangenheit geschämt, vielmehr ging er sogar soweit, zu mahnen: „Aber wir dürfen uns davor nicht verschließen; denn wenn dieses Unrecht
nicht beim Namen genannt wird, wird die Würde der betroffenen Menschen heute genauso verletzt wie damals.“
Damit war der Versuch gescheitert, jede Aufarbeitungsbemühung im Keim zu
ersticken. Im Rahmen der Dokumentation wurde dem Autor immer mehr bewusst, dass die damaligen „Erziehungszöglinge“ noch heute an den Folgen der Verbrechen leiden, die ihnen damals angetan wurden.
„So etwas ähnliches war doch damals bei Euch auch“, so oder ähnlich –
an den genauen Wortlaut kann ich mich nicht mehr erinnern – wurde ich auf dieses Buch aufmerksam gemacht, das in „Unsere Kirche“ Anfang 2006 vorgestellt wurde. Ob ich nicht auch mal etwas dazu schreiben wolle. Nein,
das wollte ich nicht, für mich lag das Kapitel „Kindheit“ ad acta. Ein oder zwei schlaflose Nächte ließen mich zu der Überzeugung kommen, auf die Bemerkung des Diakoniepräsidenten Gohde, er schließe „systematische
Verfehlungen“ aus, per Leserbrief zu antworten, weil ich zumindest in den Gewaltexzessen der Lehrerin St. und S. und der Königsberger Schwestern auf den Kinderstationen eine Systematik erkannte. Mit diesem
provokativen Leserbrief wäre die Sache erledigt, dachte ich. Es kam anders. Es bestätigten sich auch in unserem Fall die Beobachtungen von Wensierski: leugnen, verharmlosen, verdrehen, beschwichtigen. Genau dies war
auch die Reaktion des Vorstandssprechers der ESV (Rechtsnachfolger der damaligen Orthopädischen Heil-, Lehr- und Pflegeanstalten Volmarstein). Der Sprecher setzte noch einige persönliche Beleidigungen obendrauf.
Dies allein ist nicht der Grund, warum wir dieses unanständige Kapitel
hundertjähriger Anstaltsgeschichte, über das in dem weißgebundenen Jubelbuch „100 Jahre ESV“ nicht eine Zeile steht, aufarbeiten. Sehr schnell kamen wir dahinter, dass einige Ehemalige schwere Traumata aus
dieser Zeit erlitten hatten. Wir erkannten, dass wir teils die Schicksale unserer betroffenen Mitschüler nicht gekannt hatten. Unser Mitschüler Wolfgang Möckel erzählte in einem langen Telefongespräch, dass ein
Freund aus diesen JHH-Jahren mit seiner Ehefrau über seine Kindheit nicht sprechen kann. Zur gleichen Zeit sandte eine Betroffene ihre erschütternden Kindheitserinnerungen und ein anderer Betroffener erzählte über
seine Isolationsfolter (im Streckgips mehrere Tage in einem Badezimmer der Klinik bei tropfendem Wasserhahn abgestellt). Immer noch zeigte die heutige ESV keine Anstalten echter Aufarbeitungsbemühungen. Darum
fühlen wir uns mehr und mehr in der Pflicht, diese Verbrechenszeit selbst zu dokumentieren.
Inzwischen haben wir betroffenen Mitschüler auch die „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“ gegründet.
Wir verstehen unsere Aufarbeitungsbemühungen als einen Beitrag zur
Therapie der noch heute Leidenden. Diese Leiden zeigen sich in Schlaflosigkeit, Angstzuständen, Bulimie, Sprachlosigkeit, völliger Verdrängung der Kindheitserlebnisse, völliger Unselbständigkeit, Angst vor den
Mitmenschen und besonders vor der „Obrigkeit“, gescheiterten Beziehungen, kriminellen Handlungen, sexueller Unfähigkeit oder Andersartigkeit. Ein konkreteres Bild können wir noch nicht zeichnen, weil sich viele
Ehemalige noch nicht trauen, sich zu äußern.
Leisten Sie bitte Ihren Beitrag zur Aufarbeitung, zur Aufarbeitung
Ihrer Vergangenheit und der anderer Menschen. Ermutigen Sie mit Ihrem Beitrag andere, ihr Schweigen zu brechen.
Sie sollen uns nicht nach dem Mund schreiben! Schildern Sie diese Zeit
zwischen 1953 und 1970 so, wie Sie sie erlebt haben. Schildern Sie Ihre Gefühle, wie Sie sie aus dieser Zeit in Erinnerung haben. Schildern Sie Ihre Beobachtungen. Sie als ehemalige/r Mitarbeiter/in schildern
Ihre Erfahrungen mit den behinderten Kindern und erzählen Sie bitte, wie Sie versucht haben, ihnen in ihrer Situation zu helfen.
Ihr als ehemalige Mitschüler/innen schreibt, wie Ihr diese Zeit erlebt
habt. Die ESV sucht auch nach „Engelsgeschichten“. Uns fallen solche in Erinnerung an die Diakonenschüler und Diakonische Helferinnen ein. Vielleicht kommen Ihnen auch angenehme Erlebnisse in Erinnerung.
Wir wollen unsere Erinnerungen austauschen und uns helfen, unsere
traumatischen Erlebnisse zu erkennen und zu bewältigen.
Alle gesammelten Beiträge können anonymisiert (wobei Sie selbst wählen
können: 1. Buchstabe Vor- und Nachname oder Zusatzbuchstaben oder völlig andere Buchstaben nach Ihrer Wahl) ins Internet gestellt werden. Indem wir die Vergangenheit öffentlich machen, sensibilisieren wir unsere
Mitmenschen dafür, aufzupassen und zu reagieren, wenn solche oder ähnliche Verbrechen sich heute irgendwo wiederholen.
Unser Mitschüler Wolfgang Möckel, zu dem schon einige Ehemalige
Vertrauen aufgebaut und ihm ihre Erinnerungen zugeschickt haben, nimmt Ihre Schriftstücke gerne entgegen. Mit ihm können Sie auch vereinbaren, wie mit Ihren Berichten umgegangen werden soll. Wenn Sie Wert
darauf legen, dass selbst andere Mitglieder der Arbeitsgruppe Ihren Namen nicht erfahren, wird er sich nach diesem Wunsch richten.
Wir machen eine Fotosammlung auf. Einige oder mehrere Seiten unserer
Homepage sollen diese Bilder zeigen. Machen Sie - Ehemaliger/Mitarbeiter – mit; senden Sie uns Ihre Bilder. Damit machen Sie jenen eine Freude, die von ihrer Kindheit keine Bilder haben.
Hier die Anschrift von Wolfgang:
Wolfgang Möckel, Kloosterweg 36, 6301 WK Valkenburg, Niederlande,
wolfgangmoeckel@yahoo.de, Tel 0031 – 06 22 07 92 10
Mit freundlichem Gruß
Ihr
(Helmut Jacob)
Sprecher
Freie Arbeitsgruppe JHH 2006 (FAG JHH 2006)
Mitglieder: Dr. Ulrich Bach, Marianne Behrs, Klaus Dickneite, Helmut Jacob, Wolfgang Möckel, Horst Moretto, Karl-Joachim Twer
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