1. Angemessene Entschuldigung
Nur wenn um Vergebung gebeten wurde, kann sie gewährt werden.
Diese Bitten sollten gesprächsweise oder durch persönlichen Brief gerichtet werden an die einzelnen Betroffenen, sowie durch
öffentliche allgemeine Erklärungen
- in der Zeitung „Unsere Kirche“ und
- in den in Volmarstein erscheinenden Tageszeitungen geschehen
von:
a) der Leitung der Evangelischen Stiftung Volmarstein als Rechtsnachfolgerin der
"Heil-, Lehr- und Pflegeanstalten Volmarstein“ und
b) der Leitung des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland.
Im einzelnen handelt es sich um folgende Entschuldigungen:
1.a. Entschuldigungen wegen der Vergehen gegenüber den Kindern im Johanna-Helenen-Heim und anderen Häusern der
Orthopädischen Heil-, Lehr- und Pflegeanstalten Volmarstein
1.b.Entschuldigungen für das Schweigen, Leugnen, Verharmlosen in den Jahren 1967-2006
1.c. Entschuldigungen für die Beleidigungen, Ehrverletzungen und Unwahrheiten der ESV in
Leserbriefen, Presseverlautbarungen, Gesprächen und Interviews in der Presse, insbesondere in „Unsere Kirche“ und „Westfälische Rundschau“ in den letzten 12 Monaten der Aufarbeitung,
1.d. Entschuldigungen für die beleidigenden und kränkenden Äußerungen der ESV in der „Volmarsteiner Erklärung“ (Schreiben
der ESV vom 20.6.2006).
2. Konkrete Hilfe an die Betroffenen
Einige Betroffene haben tiefe seelische Wunden (Traumata) erlitten und sollten deshalb die benötigte qualifizierte
psychologisch/therapeutische bzw. adäquate Hilfe erhalten.
Ebenso sollten sie andere benötigte technische oder finanzielle Hilfe erhalten, um die Schäden und Einschränkungen im Leben
zu lindern, welche durch die beschriebenen Mißhandlungen und durch ihre Behinderung entstanden sind. In ihrer Kindheit wurde es unterlassen, sich angemessen um sie zu kümmern. Jetzt ist es Zeit, das nachzuholen.
Den Betroffenen wurde die Kindheit gestohlen. Eine Erweiterung des Erlebnis- und Erfahrungshorizontes hat kaum
stattgefunden. Für diejenigen, die noch heute in Volmarstein leben, sollte im Rahmen der Tagesgestaltung dies nachgeholt werden. Dies bedeutet, daß sie vermehrt die Möglichkeit erhalten, an Tagesausflügen und vor
allen Dingen Urlaubsmaßnahmen außerhalb der ESV teilzunehmen, um immer wieder Abstand von der Einrichtung nehmen zu können, in der sie als Kind gelitten haben. Dies dient der psychischen Erholung.
Von zwei ehemaligen, noch heute in Volmarstein Lebenden aus dieser Zeit, ist uns deren gegenwärtige Situation bekannt, und
diese möchten wir so weit verbessern, daß sie ein menschenwürdiges Leben führen können. Möglicherweise ist dieser Personenkreis aber noch größer.
Deshalb fordern wir, daß die Einrichtungsleitung sich aktiv dahingehend engagiert, daß alles unternommen wird
(Antragstellung, Unterstützung bei der Beschaffung usw.), um den ehemaligen Mitschüler/innen alle erdenklichen Hilfen und Unterstützungen zukommen zu lassen, damit sie ihre Lebensgestaltung so führen können, wie sie
sich das persönlich wünschen. Die Heimbereichsleitung sollte diesbezügliche Aktivitäten dokumentieren, um Streitigkeiten über Art, Umfang und Häufigkeit der Maßnahmen auszuschließen.
3. Aufarbeitung der Geschichte
Die ESV und das Diakonische Werk sollten aktiv - zusammen mit den daran interessierten Betroffenen - an der Aufarbeitung der
Geschichte mitarbeiten. Es geht nicht nur um die damals mißhandelten Kinder, sondern auch darum, ähnliche Vorgänge für die Zukunft tatsächlich auszuschließen.
Im Zuge der historischen Aufarbeitung muß das Thema "Die zweite Schuld", (Ralph Giordano, siehe Anlage 1)
nämlich das Schweigen, Leugnen, Verharmlosen in den Jahren 1967-2006 aufgearbeitet werden. Dieses Thema sollte bereits am 18.05.2007 im Rahmen der Vorstellung der Forschungsaufgaben in das Forschungsdesign
aufgenommen werden.
Als Konsequenz der Aufarbeitung muß insbesondere den Betroffenen garantiert sein, daß im Alter, wenn sie wieder ein
kirchlich geführtes Heim, sei es ein Alten- oder ein Pflegeheim, aufsuchen, sie keine Gewalt mehr zu befürchten haben. Sie müssen davon ausgehen können, daß sie nicht nur gepflegt, sondern ihnen auch ein aktiver
Tagesablauf geboten wird.
Daraus ergeben sich zwangsläufig finanzielle Forderungen. Das bedeutet in der Konsequenz:
- qualifiziertes Personal
- unregelmäßige und unangemeldete Kontrollen
- Beibehaltung oder Steigerung der Lebensqualität im Alter.
4. Dokumentation der Kindheitserinnerungen als Beitrag zur Therapie
Die "Arbeitsgruppe JHH 2006" bietet der ESV an,
a) im Rahmen der Aufarbeitung für den eigenen Bedarf
b) im Rahmen der Aufarbeitung für die Betroffenen
in der anstaltseigenen Druckerei eine Dokumentation mit allen Kindheitserinnerungen zu drucken, zu denen sie autorisiert
wird.
Die bisherige Zeit der Aufarbeitung hat bewiesen, daß Betroffene teils immer noch nicht mit anderen Menschen über ihre
Kindheit sprechen können. In zwei Fällen können sie sogar mit den engsten Vertrauten, nämlich den Ehepartnern, nicht darüber sprechen. In anderen Fällen wird erst durch die Konfrontation mit den Erinnerungen anderer
Ehemaliger der Aufarbeitungsprozess in Gang gesetzt.
Das Angebot zum Druck der Dokumentation eröffnet der ESV die Möglichkeit, bedingt und in engster Abstimmung mit der
Arbeitsgruppe, diesen Druck mitzugestalten. Unabhängig von der Dokumentation der ESV und/oder durch Historiker wird die Freie Arbeitsgruppe JHH 2006 selbst diese Zeit im Rahmen ihrer Möglichkeiten dokumentieren
(Beitrag zur Therapie Traumatisierter).
5. Rechtliche Ansprüche und Entschädigungsansprüche
Einige Betroffene unterhalten Kontakte zum Weißen Ring. Sollten sie oder andere Betroffene auf diesem Wege
Entschädigungsmöglichkeiten erhalten, ist die ESV aufgefordert, sie bei Bedarf, nämlich wenn es z.B. um die Bestätigung der Greueltaten während ihrer Kindheit geht, aktiv zu unterstützen und notwendige Angaben zu
bestätigen.
Der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages hat sich mit den Mißhandlungen in kirchlichen Heimen beschäftigt. Daraus
könnten sich Ansprüche auf Entschädigungen ergeben. Die ESV ist aufgefordert, alles zu tun, damit diese Ansprüche geltend gemacht werden können.
6. Forderung auf Errichtung einer Gedenktafel
Diese Gedenktafel sollte gegenüber dem Johanna-Helenen-Heim neben dem Paul Hartmann-Denkmal errichtet werden mit Hinweis auf
die Greueltaten in den Jahren 1953 bis 1967 im Johanna-Helenen-Heim und bis 1972 in anderen Heimen der damaligen Orthopädischen Anstalten Volmarstein.
Der Text zu dieser Tafel sollte in Zusammenarbeit mit den Betroffenen erarbeitet werden.
7. Der "gute Ruf" der Diakonie
Wir fordern die ESV auf, klar zu erkennen, daß unsere Gruppe keineswegs den Ruf der Einrichtung gefährdet oder auch nur
gefährden will. Das Gegenteil ist richtig. Denn die Zeiten sind vorbei, in denen die Gesellschaft davon überzeugt war, eine kirchliche Institution habe vom Gründungstag bis heute immer nur makellos und vorbildlich
gearbeitet. Dass die Wirklichkeit sehr anders aussieht, ist mindestens seit dem Buch von Peter Wensierski "Schläge im Namen des Herren", 2006 allgemein bekannt. Heute sind die Einrichtungen gefragt: Wie
ehrlich und partizipatorisch arbeitet Ihr Eure dunklen Flecken auf? Daran entscheidet sich der gute Ruf. Unsere "Freie Arbeitsgruppe JHH 2006" kämpft in diesem Sinne für den guten Ruf der ESV.
Anlage 1 zum Thema „Die zweite Schuld” (Ralph Giordano)
Ralph Giordano, Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, (Rasch und Röhring Verlag) Hamburg 1987.
Ralph Giordano nennt in seinem Buch "Die zweite Schuld" die Schuld der Deutschen unter Hitler die "erste
Schuld", um davon abzuheben die "zweite Schuld: die Verdrängung der ersten nach 1945" (S. 11)
Ein paar Stichworte: der "große Friede mit den Tätern", der "Verlust der humanen Orientierung" (beides:
S. 11), "Amnestie durch die Hintertür" (S. 143), "Bundesjustiz - NS-Justiz: die untilgbare Schmach" (S. 157), "der deutschnationale Adam kommt immer wieder durch" (S. 165), "die
seinerzeitige Renazifizierung" (S. 217), "die kollektive Verdrängung" (S. 237), "das eine große Stigma der zweiten Schuld - Unbußfertigkeit" (S. 308).
Eine der für unsere Thematik wichtigsten Thesen sehe ich in den folgenden Zeilen: "In der Rückschau erscheinen die
»Fünfziger« wie verspätete NS-Jahre. Es wehte ein verständnisinnig angebräunter Wind durchs Land, wie ihn sich die Generationen der Söhne, Töchter und Enkel von heute nicht mehr vorstellen können. Es war der totale
Triumph der Verdrängung und Verleugnung, der Sieg der These von der Kollektivunschuld" (S. 122).
Die Parallele zwischen dem, was Giordano zu 'vor 1945' und 'nach 1945' sagt, zu dem, was wir 'vor 1967 und 'nach 1967 erlebt
haben, ist verblüffend. Darum bitten wir, die Historiker aufzufordern, dieses Thema in ihr Forschungsdesign aufnehmen.
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