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Erinnerungen HB

Er hat uns ein Sparschwein angeboten, mir jeden Monat da 10 Mark angeboten. 10 Mark waren ja damals wahnsinnig viel Geld gewesen, aber ich darf von unserem Geheimnis niemandem etwas verraten. Erst mal wusste ich gar nicht, was er damit veranstalten wollte, oder was das soll. Ich war fürchterlich erschrocken und ich kann im Nachhinein nur sagen, ich war ausgestoßen.

Was erwartest Du von der Evangelischen Stiftung Volmarstein heute?

Daß die einfach aus der Geschichte heraus sich auf die Socken machen und für uns was fürs Alter tun. Die haben für uns in den jungen Jahren nichts getan. Dann sollen die jetzt was fürs Alter tun.  Weil, wir wissen alle, wo wir sonst enden und ich glaube nicht, dass das irgendwer von uns will. Und zwar ohne Angst im Alter leben zu müssen.

Am 08. Mai 2009 besuchte HB den Sprecher der Arbeitsgruppe zu Kaffee und Kuchen in seiner Wohnung. Hier Auszüge aus einem Interview:

 

An welchem Tage wurdest Du geboren?

03. 02. 1953.

Und wann kamst Du ins Johanna- Helenen- Heim?

1961, am 15. 10. und vorher war ich oben in der Klinik drin.

Wie hießen denn die Lehrerinnen im Johanna- Helenen- Heim mit denen Du zu tun gehabt hattest?

Steiniger. Ich weiß nicht, ob die Frau Wald da schon da war, aber ich glaube, die kam später. Steiniger, weiß ich noch, da hatten wir immer Schönschreiben, die hat immer so viel gemeckert und geschrien, immer nur rumgehampelt mit ihrem Stock. Und Serverin.

Als Du vor Deinem Aufenthalt im Johanna- Helenen- Heim in der Klinik warst, hast Du da nur positive Erfahrungen gemacht, oder?

Von der Klinik, soweit ich mich erinnern kann, kann ich nichts negatives sagen. Da waren große Räume und viele Kinder, da kann ich mich nicht an irgendetwas böses erinnern.

Und wie alt warst Du, als Du ins Johanna-Helenen-Heim kamst?

Sieben.

Wie war Dein Verhältnis zur Steiniger und zur Severin?

Die machten mir Angst, die machten mir einfach Angst, wenn die da an der Tafel standen und rissen einem an den Haaren, wenn man nicht aufgepasst hat oder an der Tafel rumgeschmiert hatte. Das war einfach nur Angst.

Haben sich die Gewalttätigkeiten darauf beschränkt oder ...?

Ne, ich habe auch sehr häufig in der Ecke stehen müssen, wenn ich irgendwann mal was geredet habe.

Und wer hat Dich in die Ecke gestellt?

Severin

Erlebtest Du mehr Repressalien durch die Severin oder durch die Steiniger?

Also bei der Steiniger habe ich noch lebhaft in Erinnerung, dass wir morgens die Hände zeigen mussten. Wir hatten Schönschreiben bei ihr. Das waren immer so eineinhalb Stunden  mit Tintenfass und Feder. Und wir mussten die Hände auf den Tisch legen und sie kam mit einem Lineal oder mit einem Rohrstock, und wenn die nicht sauber waren oder wenn die nicht ordentlich waren, wurde draufgehauen. Meistens mit einem Lineal.

War das ein Rohrstock oder...?

Es ist auch manchmal ihr eigener gewesen. Und nicht immer nur auf die Finger.

War das gelegentlich? War das häufiger?

Das war häufig. Auch manchmal, wenn man nur gesessen hat. Also ich würde aus heutiger Sicht sagen, fast regelmäßig. Je nachdem, was die für Laune hatte, manchmal hatte die richtig miese Laune. Wenn man die morgens schon sah, - also ich weiß, dass diese Frau mir eine Höllenangst gemacht hat.

Und, hat sie sich nur in dieser Form Dir gegenüber verhalten?

Nein, nein, da waren noch mehrere...

Zum Beispiel?

Wer war denn damals mit bei mir in der Klasse? Ich überleg gerade, Hans-Jürgen T. war damals mit in der Klasse, der lebt ja nun leider nicht mehr. Horst war schon mit in der Klasse, den können wir auch nicht mehr fragen [gestorben]. Annegret L. glaub ich, die war schon da, Erika J., die war mit mir da in der Klasse, und, so viel ich weiß, Ulla E. müsste schon dagewesen sein.

Bei welchen Mitschülern hast Du in Erinnerung, gesehen zu haben, dass sich Steiniger oder Severin gewalttätig gezeigt haben?

Ich weiß es an einem Beispiel und das betrifft eigentlich Dich selber, obwohl Du ja schon zwei Klassen über mir warst, dass man Dich zum Beispiel immer auf den Boden gelegt hat oder Du musstest liegen, weil Du Dein Stotterproblem hattest. Und das ist mir ja auch so haften geblieben aus der Zeit, dass man Dich hingelegt hatte und dass man auf Dir rumgetreten ist oder so. Also, das fand ich ganz ganz grausam.

Wenn Du 1953 geboren bist, dann warst Du 1961 7 Jahre alt?

Du lagst dann da und ich habe gedacht, warum treten die auf Dir rum. Du solltest alles,was Du sagen willst, singen, weil Du beim Singen nicht gestottert hast. Ich fand es grausam, Dich so hinzulegen.

Wer hat da auf mich getreten? Also, ich kenne zwar die Geschichte, aber es ist mal interessant, von anderen dasselbe auch zu hören.

Also das war die Severin und wenn es nicht beide [Severin und Steiniger] waren, die auf Dich eingetreten haben. Ich kann...

Die Angst, die Du vor diesen Lehrerinnen hattest, wie hat sie sich gezeigt?

Ich konnte mich in der Schule nicht vernünftig konzentrieren.

Hattest Du ab und zu Angst, hattest Du häufig Angst?

Ich hatte häufig Angst. Ich glaub, das hat schon sehr früh angefangen, je nachdem, bei wem wir Schule hatten. Da herrschte auch eine Strenge; heute würde ich sagen, wie beim Militär. Ich hab mich, wie ich nach Volmarstein kam, auf die Schule gefreut gehabt, wie jedes andere normale Kind auch. Und habe es dann so erlebt, dass da nur Strenge war. Es musste alles perfekt sein und das so schnell wie möglich. Und wenn du nicht mitkamst, dann wurdest du eben nach hinten gesetzt, da musste man eben ein bisschen mehr dran arbeiten. Diese Arbeit bestand aus Schlägen und aus Prügeleien. Ich durfte in meinem Schönschreibheft nie einen Tintenfleck haben; unter anderem wurden die Hände dann wieder blau gehauen. Die taten wieder weh und dann kannst du nicht schreiben; da hattest Du einfach Angst.

Also die Tatsache, dass die Lehrerinen Dir auf die Hände gehauen haben, die hatten wir erwähnt.

Ja nicht nur. Ich habe auch in der Ecke gestanden, weil ich mit irgendwem geredet hatte. Von morgens 9.00 Uhr bis 12.00 Uhr habe ich dann in der Ecke gestanden. Das geht gar nicht, du durftest ja nicht umfallen. Ich hab dann ganz verkrampft da gestanden, musste gleichzeitig aber sehen, dass ich dem Unterrichtsstoff folge, das ging überhaupt nicht, weil ich mich ja nicht setzen durfte. Ich bin zweimal sitzengeblieben, weil einfach die Konzentration oder was auch immer gefehlt hat. Heute weiß ich einfach, dass es eine pure Angst war. Pure Angst, von vornherein bloß nichts falsch zu machen.

Und wie alt warst Du, als Du zum ersten Mal in der Ecke gestanden hast, so circa?

Zweite Schuljahr schon, das ging dann sehr schnell.

 

Wie hast Du Dich auf der Kinderstation gefühlt, mit welchen Schwestern hattest Du überhaupt zu tun?

Also, auf der Mädchenstation im Johanna-Helenen-Heim war das so, dass da Elise und Martha waren, beides Diakonissen. Beide für mich aus meiner Sicht schon steinalt. Und ich kann mich dran erinnern, wie meine Oma mich damals ins Johanna-Helenen-Heim brachte, mit meinem Koffer, mit meinem Mantel, dass Elise zu mir sagte - und das weiß ich noch wie heute - : „Hier herrscht ein anderer Ton.“ Nahm mir meinen Koffer weg, zog mir meinen Mantel aus und nahm mir meine Puppen weg. Und dann musste ich erst mal mit nach oben auf mein Zimmer. Da wurde mir der Saal und alles gezeigt. Meine „Jutta“, meine Lieblingspuppe, wurde ans Fußende gesetzt. Das ist also der erste Eindruck, den ich vom Johanna-Helenen-Heim habe. Was ich nie vergesse, war dieses Haus. Es war sehr groß, es hatte sehr hohe Räume, sehr dunkel wirkte und irgendwie bedrohlich. Ich weiß, dass Elise mich mit diesem Satz fürchterlich erschrocken hat.

Und als sie diesen Satz zu Dir sagte, da warst Du erst sieben?

Ja, ich war sieben Jahre alt. Und lass mich ne halbe Stunde dagewesen sein. Meine Oma war gerade auf dem Weg nach Hause.

Und wie war das dann später? Hattest Du auch da unter Repressalien zu leiden?

Ich weiß nicht, die Elise war immer so, wenn man da einen verkehrten Ton hatte, sag ich mal, oder irgend etwas verkehrt gemacht hatte, aus ihrer Sicht, habe ich stundenlang in der Ecke gestanden, im großen Saal, wo wir Essen mussten. Spielen war so gut wie gar nicht. Ich habe sehr viel gespielt, das weiß ich noch, mit Angela L., die kennst Du. Mit der habe ich damals aus purer Langeweile, weil wir gar nichts anderes zu tun hatten, einen Strick um den Bauch gemacht. Angela war so alt wie Du, glaube ich, und ich wollte, dass sie laufen lernt. Und zwar so wie ich. Ich, ein Kind von sieben oder acht Jahren. Und da habe ich gesagt, du kannst das auch, wir üben das. Und wir sind immer, wie blöde Schafe - heute sage ich das so -  um diesen blöden Tisch rumgelaufen. Es hat keiner verstanden. Aber was hättest du vor Langeweile machen sollen? Da war ja nichts. Es wurde nicht gespielt. Wenn, hatten wir Sprüche und die Bibel auswendig zu lernen. Das weiß ich noch. Oder man kam in die Ecke. Draußen war wenig Möglichkeit zu spielen, das war vielleicht mal ne Stunde, anderthalb, die wir da Sonne kriegten. Aber wir durften ja auch mit den Jungs nicht spielen. Fand ich ganz schlimm. Ich komme aus einem Haus, ich hatte selbst zwei Brüder und noch ne Schwester. Also ich weiß auch, dass es viele waren, die das nicht gut fanden im nachhinein. Aber du blockst irgendwann einfach ab und erträgst es.

 

Die Schwester Martha, die hat immer im großen Saal gestanden, an der Tür, wenn wir abends im Bett waren - und wir mussten ja relativ früh [ins Bett] - , mit dem Rohrstock und hat aufgepasst, dass wir nicht flüstern, dass wir nicht miteinander reden. Oder wenn mal jemand geweint hatte, Heimweh hatte, was völlig normal ist in dem Alter, - das gab es nicht. Wir hätten ja gar keinen Grund, wir hätten ja alles.

Haben die Euch misshandelt?

Ich habe Stunden mit der Ulla E. in der Schuhputzecke verbracht. Das war dieser lange Flur, da gab es eine Abzweigung, da war ein Fenster drin, da stand ein Schuhpult. Und wenn ich dann nicht vernünftig war, warum auch immer, dann wurde ich da hingesetzt und dann bekam ich die Bibel. Dann durfte ich vorwärts und rückwärts die Bibel lesen. Zwei Stunden lang. Und wenn ich dann wieder lieb war und ganz ganz leise, durfte ich auch wieder in mein Bett. Ich weiß nicht, ich hab da mit Ulla stundenlang aus dem Fenster gucken können. Da guckte man so Richtung Franz-Arndt-Haus. Deswegen bin ich ja auch vor 1 ½ Jahren nicht mit nach oben gegangen, ich konnte das gar nicht, ich konnte diese Ecke nicht wieder sehen [HB bezieht sich hier auf eine Besichtigung des JHH vor etwa 2 Jahren mit Mitgliedern der Arbeitsgruppe und Mitarbeitern der Evangelischen Stiftung.]. Oder was eins der „schönsten“ Strafen war - ich mein, ich hab mir da einen Witz draus gemacht - da war ich dann schon ein bisschen älter, so zehn oder elf: Schuhe putzen für alle Leute. Wenn man was ausgefressen hatte. Mit Schienen dran, mit allem dran. Im Endeffekt habe ich mir dann gesagt, du brauchst dann nicht so früh ins Bett. Dann putzt man hier lieber die Schuhe. Das das natürlich ne Heidenarbeit war...

Wie oft sind denn dann überhaupt die Schuhe geputzt worden?

So viel ich weiß, alle 14 Tage wenigstens und wenn es als Strafe war, dann durftest du es noch öfter machen.

So wie die M. berichtet hatte, war sie doch für das Schuheputzen zuständig.

Aber anschließend waren das auch wir kleinen [wird so von MB bestätigt]. Obwohl, Ulla E., die sah ja damals schon kaum, und ich hab dann immer gesagt: „Komm Ulla, Du kannst mir helfen“. Sie sagte, sie sieht doch nichts. Ich meinte, komm, dann brauchst du nicht ins Bett. Das war raffinierter, da war ich dann nicht alleine beim Schuheputzen. Alleine in diesem Raum zu sitzen - das weiß ich zum Beispiel - , das war für mich unerträglich. Unerträglich fand ich das, in einem Raum, in dem die Türen zu waren, alleine zu sitzen. Weil, - du warst ja sonst immer mit allen Kindern zusammen. Und dann dieses ausgegrenzt sein. Du musstest alleine sitzen. Auch wenn das nur für ne halbe Stunde so war, das war eine der schlimmsten Strafen für mich überhaupt. Da habe ich heute noch Last mit. Ich mag bis heute noch keine geschlossenen Türen, keine geschlossene Räume.

 

War das so, dass Du auch auf der Mädchenstation, auch als Kind Angst hattest?

Ja.

Hattest Du ab und zu Angst?

Ne, sehr häufig. Weil es waren große Räume, es waren viele Geräusche da und es war diese doofe Martha, die immer mal wieder da stand mit ihrem Rohrstock. Und du musstest ganz leise sein. Du wusstest genau, wenn du jetzt nicht ganz ruhig atmest, dann haut die zu. Das ging ohne Vorwarnung.

Wie oft hast Du durchschnittlich Gewalt an Dir erlebt? Hat man Dich einmal wöchentlich, hat man Dich einmal in einem Jahr geschlagen?

Ne, das war schon regelmäßig so, je nach Laune und Stimmung, die sie hatten, so einmal die Woche. Wenn die Martha da stand, du unterhältst dich als Kind - das fällt dir gar nicht so auf - oder flüsterst mal, die hatte Ohren wie ein Luchs. Und dann war dieser Rohrstock, und das habe ich auch in Erinnerung behalten, total lang für mich. Die stand in der Tür, wollte jemand anderen treffen, traf aber mich, weil mein Bett dazwischen stand. Das waren ja sieben Betten auf einer Seite, und auf der anderen standen, glaub ich ... Wir waren insgesamt elf oder zwölf, meine ich. Das war schon heftig.

 

Diese Puppe, von der Du eben erzählt hast, durftest Du die behalten?

Meine Puppe kam weg, meine Puppe verschwand, da war ich vielleicht ein Jahr in Volmarstein. Ich konnte meine Jutta nicht mit nach Hause nehmen, weil Oma meinen Koffer tragen musste und mich tragen musste. Und für meine Jutta war kein Platz. Und ich hab sie also auf mein Bett gesetzt. Wir mussten unsere Betten ja selber machen und wir hatten ja auch unsere Nachttischchen, wo wir unsere Habseligkeiten, wenn es denn welche gab, drin waren. Und ich hab Jutta aufs Bett gesetzt und ich bin nach den Sommerferien wieder zurück, habe mich wahnsinnig auf diese Puppe gefreut. Die hat meine ganze Kindheit begleitet. Und Jutta war weg. Dann hat meine Großmutter gefragt, wo diese Puppe ist. Der war das auch aufgefallen, als sie meine Sachen einräumen wollte. „Ja, die haben wir weggeschmissen, die war ja kaputt.“ Die war ja auch kaputt, das stimmt, die hatte die Fersen angeknabbert, die hatte keine Finger mehr. Aber die war mit mir in jedem Krankenhaus gewesen. Die hat alles mit mir erlebt. Die Puppe war nicht mehr da. Da habe ich dann auch fürchterlich geweint. Ich glaube, meine Oma hat dann gesagt, ich kauf  dir eine neue. Elise hat dann auch noch mit meiner Oma diskutiert. Das Gespräch weiß ich nicht mehr. Aber das war ja nicht mehr meine Jutta, da gab es keinen Ersatz für. Ich wollte diese Puppe wiederhaben, so ramponiert wie die auch aussah. Die hat mich ja begleitet, von meinem zweiten Lebensjahr an, von einer Operation zur nächsten. Ich bin ja auch, wo ich noch zu Hause war, ziemlich oft operiert worden, aber die war immer da. Und die Idioten da, nehmen die und schmeißen die in die Mülltonne. Das ist etwas, das fand ich unheimlich grausam. Ich hatte nichts mehr, woran ich mich festhalten konnte. Ich hab meiner Jutta erzählt, dass ich nach Hause will, weil ich es da nicht aushalte. Jutta wusste immer alles. Wenn diese Puppe hätte reden können, da hätte man das ein oder andere auch besser verstanden vielleicht. Aber die war ganz ganz wichtig für mich.

 

Wie lange haben sich diese Gewalttätigkeiten im Johanna-Helenen-Heim an Dir hingezogen?

Bis 1964 glaube ich.

Da warst Du 11?

Ja, ich kam damals, bis die Oberlin-Schule gebaut wurde, nochmal für eine gewisse Zeit ins Margarethenhaus [Ehemals Lehrlingsheim für weibliche Behinderte]. Ich weiß nicht, wann die Elise und die Martha wegkamen, da kann ich mich nicht mehr dran erinnern. Ich weiß, wir wurden aufgeteilt in verschiedene Häuser, so dass vom Johanna-Helenen-Heim auch Kinder ins Margarethenhaus kamen. Ich bin vom Margarethenhaus dann in die Oberlin-Schule gegangen.

Das Personal vom Johanna-Helenen-Heim kam aber nicht mit ins Margarethenhaus?

Die verschwanden auf einmal. Auf wundersame Weise waren die alle weg. Also, das weiß ich.

Wenn Ihr sieben Kinder auf der einen Schlafzimmerhälfte und sieben auf der anderen Seite ward, habt Ihr denn da Gelegenheit gehabt, Euch zurückzuziehen?

Du hattest ja nur Dein Bett und einen Nachttisch, wo evtl. mal gerade... wenn in dem Nachtisch überhaupt etwas drin war. Das wurde ja alles unterbunden. Wir durften ja noch nicht mal miteinander reden.

 

Viele Kinder haben darüber berichtet, dass sie sich sehr geschämt haben, wenn die Badetage waren. Wie hast Du diese Tage empfunden?

Die waren grausam. Erstmal waren immer mehrere in diesem Raum und wer zieht sich schon gerne voreinander aus? Dazu kam, dass diese Schwestern uns ja waschen mussten von oben bis unten. Es musste ja alles gründlich sauber sein. Ich weiß nicht, ob es Übergriffe waren, es war einfach nur... nicht gut. Es war nicht gut, nein. Die haben natürlich überall jede Ritze nachgeguckt und gewaschen, mit dem Waschlappen, ob es immer nur der Waschlappen war, wenn du dich nicht bewegt hast, kriegst du das ja gar nicht mit.

Hattest Du das Gefühl, dass die sich für bestimmte Körperteile besonders interessieren?

Manchmal hatte man diesen Eindruck, ja.

Und wie hat sich das gezeigt?

Ja, weil die besonders gewaschen wurden. Und das drei- vier mal. Da müssen wir ja noch mal gucken, da könnte ja noch was sein. So in die Richtung. So habe ich das gesehen.

Wurden denn nur Gleichaltrige ins Bad getan?

Nein, nein, das waren auch manchmal die Großen. An zwei kann ich mich erinnern. Die eine saß dann auf der einen Seite der Wanne und wurde gewaschen, ich auf der anderen. Es war nicht so, dass sich die Kleinen alleine Waschen konnten und die Großen für sich. Es waren ja auch, glaube ich, 22 Waschbecken da. Dann standen wir morgens schon wie die Orgelpfeifen da.

Was habt Ihr denn benutzt, um Euch a) zu waschen und b) um Euch die Zähne zu putzen.

Es gab Zahnbürsten und Bambusbecher. Und auch Zahnpasta, die wurde jeden Abend schon auf die Zahnbürsten verteilt. Wir hatten jeder unsere Handtücher, wir hatten auch Waschlappen. Jeder hatte eine Nummer und hatte auch nur dieses Waschbecken zu benutzen. Ich hatte zum Beispiel die Nummer 18.

Und diese Seife?

Die war gestellt. Ich weiß jetzt nicht ob es Palmolive war oder ob es Kernseife war. Ich weiß, wir hatten Shampoo aus Tuben und dieses Shampoo landete auch schon mal auf der Zahnbürste im Waschraum für alle. Das war ein leckerer Geschmack, das sag ich Dir.

Ihr als kleine Kinder habt Euch natürlich geschämt. Hast Du denn das Gefühl gehabt, dass die Großen sich auch geschämt haben?

Also ich weiß nicht, wenn du so als 15jährige so von einer 11 oder 12jährigen auf die Toilette gesetzt werden musst und hast das erste mal deine Blutung, das ist für beide sehr unangenehm. Ich musste Ch. auf die Toilette helfen bzw. damals konnte sie teilweise noch stehen. Und ich habe mich fürchterlich erschrocken, da war überall Blut, ich wusste gar nicht, was passiert war.

Da warst Du?

Elf. Das wird für Ch. unangenehm gewesen sein, aber wir waren ja aufeinander angewiesen, weil, sonst kamst du ja noch nicht mal auf Toilette, wenn Du musstest. Wir durften ja nur dreimal am Tag.

Und wie konntest Du ihr helfen?

Immer wenn sie mich gefragt hat, bin ich mit ihr auf Toilette. Sie hinzustellen, umzudrehen, gucke, daß die Röcke alle hochkamen. Die wurden auch schon mal nass, weil, die Kraft besaß ich ja gar nicht. Wenn sie das Gefühl hatte sie musste aufs Klo, bin ich mit. Wir haben schon versucht, uns untereinander zu helfen. Weil, manchmal ging es ja gar nicht anders.

Hat denn da überhaupt eine Hilfsbereitschaft bestanden?

Also, wir Kinder unter uns, soweit wir konnten, weiß ich wohl, dass wir versucht haben, uns zu helfen. Ob das morgens nach dem Aufstehen war, Schienen anziehen, die Schwestern kamen gar nicht nach. Die waren, glaube ich, sogar darauf angewiesen, dass wir ihnen helfen.

Wie ist denn die Hierarchie gewesen? Hat es behinderte Kinder gegeben, die auf andere behinderte Kinder losgegangen sind?

Ja, da gab es auch Reibereien. Ich weiß, Bettina und ich, wir waren uns nie grün. Ich weiß bis heute nicht, warum. Wir waren jung. Wir haben uns angeguckt und dann... Also ich kenne Bettina nur als ziemlich rabiat und damals war ich noch sehr ruhig. Die war auch älter als ich, die war schon 9.

 

Wie hast Du  Rektor F. kennengelernt?

Der war Rektor an der Schule.

Wann kamst Du zu ihm hin?

1964. Er machte eigentlich am Anfang einen sehr netten Eindruck.

Du kamst ins Oskar-Funke-Haus. War er da schon da?

Nein, wir hatten erst einen anderen Rektor im Oskar-Funke-Haus. Der [F.] kam anschließend. Er war dann Rektor, war relativ freundlich, relativ aufgeschlossen, also so, daß wir ihn als Rektor anerkannt haben. Er konnte einem gut etwas beibringen. Wirklich, das konnte er, da hatte er wirklich ein Händchen für. Warum er sich dann im Endeffekt an den Mädchen oder Jungen vergangen hat, mit der Zeit, das weiß ich nicht. Ich weiß, dass es mehrere waren und nicht gerade wenige und ich weiß, dass wir damals gut 2 Jahre geschwiegen haben. Aus Angst, man würde uns nicht glauben. Aufgrund dessen, dass uns sowieso schon so viel da passiert war, haben wir erst einmal geschwiegen. F. war allerdings auch so raffiniert, dass er, zumindest hat er das mir, somit wird er das auch bei anderen gemacht haben. Er hat uns ein Sparschwein angeboten, mir jeden Monat da 10 Mark angeboten. 10 Mark waren ja damals wahnsinnig viel Geld gewesen, aber ich darf von unserem Geheimnis niemandem etwas verraten. Erst mal wusste ich gar nicht, was er damit veranstalten wollte, oder was das soll. Ich war fürchterlich erschrocken und ich kann im Nachhinein nur sagen, ich war ausgestoßen. Sagen wir mal so, ich musste ja nachmittags zum Sprachunterricht. Ich hatte zwar kein Stotterproblem, aber ich hatte ein anderes Problem. Er gab ja nachmittags Sprachunterricht bei Verschiedenen, nicht nur bei mir, und dann bin ich da auch hin. Ich dachte mir, der ist ja gut, der hilft. Der ist ja auch als Rektor gut, dann gehe ich auch dahin. Das hat aber nicht lange gedauert, ich glaube, ich war ein viertel Jahr bei ihm. Dann fing das so an mit seinen Übergriffen.

Fing das so nach und nach an?

Ja, ja. Das war nicht mit einem Mal. Der hat so nach und nach, geguckt, wie weit kann ich denn.

Kannst Du Dich daran erinnern, wie viele Jungen da involviert waren?

Das kann ich Dir nicht sagen, ich weiß nicht, wie viele.

Wie viele Mädchen etwa?

Ich glaube 8 Mädchen waren das, die dann was gesagt haben.

Und in welchem Alter?

11 bis... Was vorher war, ob die jünger waren, weiß ich nicht. Wir haben ja auch untereinander dieses Thema gar nicht angesprochen. Wir haben gar nicht miteinander darüber gesprochen, auch wir Mädchen nicht. Weil du einfach nur Angst hast oder dich geschämt hast.

Was hast Du denn gehört, wie die Übergriffe bei den anderen Mädchen stattgefunden haben?

Sagen wir mal so, er hat angefangen mit harmlosen Doktorspielchen, um einfach mal zu gucken. Ist dann aber relativ schnell bis zum Ende vorgedrungen. Die eine hat er nur geknutscht, mit einer anderen hatte er auch Geschlechtsverkehr gehabt. Und es war ihm egal, ob Junge oder Mädchen. Als ich dann wusste, was er von mir wirklich will, bin ich auch zum Sprachunterricht nicht mehr gegangen. Ich habe abgeblockt, ich habe gesagt, ich bleibe bei meinem Problem. Es war ja kein Zwang. Bei mir hat sich das im Nachhinein auch so geäußert, dass ich ihm nicht mehr alleine begegnet bin. Ich habe einen Riesen-Bogen um diesen Mann gemacht, über 2 Jahre lang. Ich bin nicht alleine ins Lehrerzimmer gegangen, ich hatte überall eine Ausrede. Ich hatte immer jemanden mit.  

Willst Du darüber sprechen, wie die sexuellen Übergriffe Dir gegenüber ausgesehen haben?

Erst einmal hat es mir Angst gemacht. Ich wusste nicht, was er von mir will, ich habe gar nicht verstanden, was abgeht. Wie gesagt, ich hab dann auch sehr schnell reagiert, hab gesagt, ich geh da nicht mehr hin, weil ich wusste ganz genau, dass vor meinem Sprachunterricht ... er zieht das wieder durch. Ich weiß, dass es mich auf die Dauer belastet hat. Mehr, als ich als Kind vielleicht Erinnerungen dran hab. Was ich sehr grausam fand, – er kam mir vor wie ein Riesenkerl, so dieser Höhenunterschied; er hat ja seine Versprechen [siehe Spardose] formuliert, aber immer mit so einem Unterton, dass, wenn wir nicht schweigen, er uns auch was ganz, ganz böses antun würde, oder uns würde auch keiner glauben. Das fand ich dann im Endeffekt auch sehr erschreckend. Also, sexuelle Übergriffe, das hat angefangen – ich mach ganz kurz, ich kann einfach noch nicht drüber reden – es fing an mit einer Knutscherei, er griff an den Busen, er ging Dir untern Rock, bis er dann endlich das tat, was ... war. Es war nicht schön, es hat mir weh getan und es hat mir eine Heidenangst eingejagt.

 

Welche Auswirkungen hatten denn diese Schandtaten hinterher in Eurer Beziehung?

Da könnte eigentlich mein Mann was zu sagen. Also wir schlafen schon miteinander, aber nicht sehr oft. Es ist nicht so, dass ich nicht gerne mit ihm schlafe. Das ist es nicht, dass tue ich eigentlich sehr gerne. Aber ich kann es nicht immer. Und dann kenne ich ... und dann sehe ich die Ursachen in dieser alten Geschichte. Aber nicht nur. Ich meine, er ist ein Mann mit einer Engelsgeduld und das ist auch gut so. Aber ich hab ihm das zum Beispiel nie erzählt. Wenn das jetzt nicht durch diese Aufarbeitungsgeschichte mit Volmarstein gewesen wäre, - ich hätte ihm das nie gesagt. Da hab ich ganz einfach geschwiegen. Ich glaub aus Scham. Weil, ich weiß nicht, so als 11jähriges oder 12jähriges Mädchen dachtest Du, Du bist vielleicht doch selber Schuld gewesen. Obwohl, dass kann ich mir nicht vorstellen, ich war noch viel zu kindlich. Ich hatte ja keine Ahnung, was der überhaupt will.  

Ihr habt nicht die Sexualität, die ein Paar haben würde, wenn es diese Erlebnisse nicht gegeben hätte.

Bin ich von überzeugt.

Ist es dann so, dass Du in diesen Augenblicken an die Ãœbergriffe denkst?

Ich glaube schon, dass es eine Ursache spielt. Irgendwann taucht dann eine Blockade auf und dann ... Wenn mein Mann mich nicht so lieben würde, würde er es gar nicht ertragen. Einfach ist es nicht. Ich würde es ganz gerne in eine andere Richtung schieben. Ich weiß nur nicht, wie ich das machen soll.

Habt Ihr Euch einmal überlegt, zur Eheberatung zu gehen?

Ich glaube, eine Eheberatung hilft mir da nicht. Ich habe hier bei Dir keine Schwierigkeiten darüber zu reden. Das liegt aber auch daran, dass wir uns gut genug kennen und Du selber mit in Volmarstein warst und Du Dir unheimlich viel Zeit nehmen kannst. Ich glaube nicht, dass ich mich anderen gegenüber so äußern könnte. Wenn man mich so sieht, denkt man, die kann reden und das macht sie und das tut sie. Das tue ich ja auch, aber es ist schon viel, was da irgendwo sitzt, ja. Wenn er dann merkt, es geht nicht, dann sagt er auch, ist ok, dann probieren wir was anderes oder ich sag einfach, komm, lass mich zufrieden.

 

Haben Euch diese 3 Jahre Aufarbeitung durch unsere Gruppe geholfen? So wie ich Dich verstanden habe, hast Du ihm ja vorher von diesen sexuellen Übergriffen überhaupt nichts erzählt.

Sagen wir mal so, ne, dass stimmt nicht. Solange Volmarstein für mich hinterm Berg verschwunden war – und ich wohne ja direkt daneben – hab ich das auch relativ gut versteckt gehabt. Es hat mich nicht groß belastet, ich habe vielleicht gemerkt, halt stopp, das müsste jetzt vielleicht ein bisschen anders sein, aber da hat unsere Sexualität noch besser funktioniert, als in den letzten 3 ½ Jahren. Aber mit dem ersten Lesen des Namens F. - dass war mir hier oben nicht bewusst – hat es Klick gemacht. Und dann fing es an. Und dann fing auch die Spannung an. Wir hatten vorher eigentlich eine relativ gesunde Sexualität. Ich glaube schon, dass es bei mir so ein Auslöser war. Allein dieser Name - und dann war alles wieder da.

Wie haben Dir diese vergangen drei Jahre geholfen?

Geholfen insofern, dass ich heute weiß, man kann es verarbeiten. Es gibt noch einige, mit denen man reden kann, wenn es mal brenzlig wird. Und ich sag heute, dass es auch die Öffentlichkeit erfahren kann – zumindest einen Teil der Geschichte. Nicht alles. Es gibt gewisse Sachen, wo ich einfach sage, die sollen das nicht wissen. Will ich nicht. Aber da komme ich später noch mal drauf.

Ich habe gehört, dass der Rektor [hier wird die Frage nach einer besonderen Abartigkeit gestellt, die für die Veröffentlichung nicht geeignet ist]. Hast Du das auch gesehen?

Nein. Ich find so was pervers, ich hab davon gehört, dass er so was gemacht hat, aber ich selber habe es ja nicht erlebt. Ich hab ja für mich nur den sexuellen Übergriff an mich erlebt, weil wir untereinander ja gar nicht geredet haben.

Wieviel Jahre haben sich dieÃœbergriffe hingezogen?

Zwei, drei Jahre bestimmt.

Vom elften bis dreizehnten Lebensjahr?

Genau.

War es ab und zu?

Wenn er konnte, regelmäßig, wenn du bei ihm warst.

Wie oft?

Ich hatte montags und mittwochs Sprachunterricht. Ich glaub, mitgespielt habe ich so – ist jetzt der falsche Ausdruck, aber Du weißt, was ich meine – ich bin vielleicht so vier, fünf Monate hingegangen und hab dann irgendwann gesagt, ich brauche keinen Sprachunterricht mehr. Hab aber auch nicht den Mut gehabt, mich irgendwem anzuvertrauen.

Auch nicht irgend einem Mitschüler oder Mitschülerin?

Ne, ich sag ja, wir haben geschwiegen. Zu dem Zeitpunkt hat er ja auf der einen Seite Versprechungen gemacht, dass wir Geld kriegen, – das haben wir nie gesehen. Auf der anderen Seite war dieser Druck, wenn wir was sagen, wer glaubt uns?  Ich weiß z.B. noch, ich kann mich gut daran erinnern, wie es zur Verhandlung kam. Und dann war es ja ein Heidenaufwand in der Oberlinschule, weil wir ja alle vernommen wurden oder sollten. Alle, die zumindest Erinnerungen daran hatten. Mit dem Unterschied, wir brauchten - oder wer nicht konnte - nicht vor Gericht gehen. Und dann wurden wir Mädchen ja alle einzeln gefragt auf der Gruppe. Frau G.wusste davon auch nichts. Noch nicht mal der habe ich mich anvertraut. Und das ist für mich eine Vertrauensperson gewesen. Aber da war entweder mein Schamgefühl so groß oder ... ich kann es nicht nachvollziehen. Aber ich weiß, dass sie mich damals auch gefragt hat. Und ich hab dann gesagt Püh. Ich bin ja nicht mehr zum Sprachunterricht gewesen und das ist ja auffällig gewesen und ich hab dann gesagt, ich brauch den nicht. Ich meine, das Stolpern über mein „s“ kann ja bleiben. Ich hatte ja sonst keine Schwierigkeiten. Wenn man jetzt so ein bisschen ... dann hätte man ja von selber drauf kommen können; Komisch, die ist doch sonst immer hingegangen. Aber ich hab um diesen Mann, bis zu seiner Verhaftung, einen riesen Bogen gemacht.

 

Kannst Du Dich noch daran erinnern, wann die Verhaftung gewesen ist?

Ich überleg die ganze Zeit. Ne, dass weiß ich nicht mehr.

Und wer hat Euch dann hinterher befragt?

Das waren Kriminalbeamte. Das waren Frauen. Jeder musste ins Büro runter und wurde dort befragt: ob und inwiefern und was. Allerdings wollte ich dann nicht vor Gericht. Ich wollte dem Mann nicht noch mal gegenüberstehen. Was da an Aussagen gelaufen ist, kann ich Dir im Einzelnen nicht sagen. Jeder hat ja seine eigene Geschichte gehabt. Aber was rausgekommen ist, ist, dass er einige Spielchen getrieben hat. Und die waren nicht immer schön. Brigitte W., die wusste das auch. Aber die hat ... ich glaub, die war auch noch bei dem Gerichtstermin dabei.

Irgendeiner hat berichtet, dass sogar auf den Freizeiten...

F. mit seinem Sohn. Der Kleine ...

Ja, aber wo haben denn da überhaupt die ...

Ach, dass war doch ein Bauernhof, es gab doch die Scheunen und Schober, in Lenze, da wo wir waren diese drei Wochen. An der Ostsee. Da war keine Frau mit, da war sein ältester Sohn mit.

Und da hat er Dir gesagt, dass Du zum Heuschober ...

Ne, mir nicht. Bei mir nicht mehr. Ich wusste das. Da habe ich einen riesen Bogen um ihn gemacht, weil er mir Angst gemacht hat. Immer wenn ich mit dem alleine bin, ... was hätte ich denn machen sollen. Schreien kannst Du da nicht.

 

Und wie war Dein Gefühl, nachdem Du mit F. jeden Kontakt ohne Begleitung vermieden hast und darum keine sexuellen Attacken mehr ertragen musstest, wie fühltest Du Dich, wenn Du ihn gesehen hast?

Ich hab mich sehr geschämt und ich hatte Angst vor ihm. Ich hab mich für mich geschämt und ich hatte eine Heidenangst. Wie gesagt, ich bin ja, wenn ich ihm begegnen musste, immer nur noch zu zweit zu ihm hin, weil ich immer gedacht habe, wenn der mich alleine erwischt, wer weiß was dann ... dann bist Du wieder dran.

Haben andere Mitschüler später mal mit Dir darüber gesprochen?

Nein, wir waren alle erstaunt auf der Gruppe, wieviel Mädchen wir doch waren, die betroffen waren. Wir haben miteinander nicht geredet, das war kein Thema, für keinen von uns. Ich weiß, R. war involviert, A.[Vergewaltigungsopfer, darum Namen drastisch gekürzt] war involviert, die sind ja auch alle, von Volmarstein weggekommen. Auf andere Heime verteilt. Und da ich schon so lange Zeit in Volmarstein war, hat man mich natürlich gefragt - ich kann mich daran erinnern – ich habe gesagt, ne, ich will hier meine Schule zu Ende machen. Also die paar Jahre mehr halte ich auch noch durch. Weil, das ist ja für mich dieser Widerspruch: Volmarstein hat mir ja nicht immer gut getan, aber es war gleichzeitig auch Zuhause. Weil, mein Zuhause gab es ja für mich nicht mehr. Meine Mutter hat mich da oben abgeliefert, war wieder weg und gesagt, sieh mal zu, dass Du Deine Schule, Deine Ausbildung machst und nach Deiner Ausbildung kannst Du wieder nach Hause kommen. Obwohl sie von den Eskapaden wusste, von meiner Großmutter her, die hat ja ... die führte uns ja damals den Haushalt. Aber meine Mutter ist da nie selber eingeschritten.

 

Wenn Du die Begriffe „Johanna-Helenen-Heim“ und „Freiheit“ hörst, was fällt Dir dann ein?

Freiheit war für mich im Johanna-Helenen-Heim vielleicht die halbe Stunde an der frischen Luft, draußen auf dem Hof. Weil, da konnte man durchatmen, da war nicht ....

Wie groß ist der Hof etwa gewesen?

Also, für mich war er als Kind sehr groß. Wie groß ist der? Der ist nicht groß gewesen, aber als Kind war der riesig. Ich weiß auf der linken Seite, als wir zur Haustür rauskamen, waren links die Jungs und rechts die Mädchen verteilt und man hatte den Blick auf den Friedhof. Konnte man ja nicht ändern. Aber sehr groß war der nicht. Nur, das war Freiheit, ich war ja nicht eingesperrt, man konnte sich mal ein bisschen bewegen und sei es nur auf dem blöden Klettergerüst hin und her. Weil, mehr Möglichkeiten hatten wir da ja nicht. Wir hatten ja kaum was zum Spielen.

 

Viele haben erzählt, es habe schlechtes Essen gegeben. Was kannst Du dazu erzählen?

Ich möchte mein Erbrochenes nicht wieder essen müssen. Es waren dicke Bohnen. Immer wieder dicke Bohnen. Wenn es die gab, dann ... und ich krieg die bis heute nicht runter. Oder Milchreis. Und Wassersuppe mit Fleischwurst ... bitte nicht. Wenn er [ihr Mann]sich – nur mal ein Beispiel – Wenn wir einkaufen gehen und ich weiß, er  holt sich einen Kringel Fleischwurst, dann stehen mir die Nackenhaare hoch. Er sagt dann immer, ist doch lecker, aber ich kann es nicht essen. Das Essen von Volmarstein war das allerletzte.

Wenn Du erbrochen hast, ...

Ja, ist so. Du wurdest gefüttert mit dem Zeug. Auf dem Fußboden.

Wer?

Ich glaube Elise. Ich kann mich noch dran erinnern, weil meine Großmutter mal zufällig dazu kam und mich abholen wollte in die Ferien und die kam immer so, wenn Mittagszeit war. Und das war – soviel ich weiß – ein Freitag und es gab dicke Bohnen mit diesem ekeligen Zeug und ich hab die Bohnen ja immer so an die Seite geschoben, es ging ja gar nicht. Und dann habe ich sie mir runtergewürgt und die kamen wieder zurück und Elisa kam natürlich gleich wieder an: Auf den Boden, Hände auf den Rücken – ich glaub da war noch jemand zweites dabei – und schaufelte mir das Zeug wieder rein. Und dann ging die Tür auf und meine Großmutter stand in der Tür und sah mich da liegen. Die hat ja direkt gedacht, ich bin gefallen oder so, die hat das gar nicht realisiert. Bis sie gesehen hat, was Sache ist. Und dann hat sie sich auch beschwert bei der langen Dürren. Wie hieß sie? Elfriede? Dass das ja wohl unmöglich wäre; und Elfriede hat dann gesagt, ja, ich kümmere mich drum, dass geht ja auch nicht, ich [Elfriede] wusste das nicht. Obwohl sie alles wusste. Die war nicht doof.

Was mir sehr stark in Erinnerung geblieben ist, dass wir aussortiert worden sind in gute und schlechte Esser. Wir hatten einen Katzentisch. Ich habe mehr an diesem Katzentisch gesessen als an allen anderen Tischen.

 

Wie ist denn Dein Verhältnis zu den Diakonischen Helferinnen gewesen?

Also ich weiß, hier die Christel, die uns damals im JHH betreut hat, die ist nie böse gewesen.

Und wen habt ihr sonst noch gehabt?

Ich weiß nicht, ich kann mich nur an Christel erinnern. Da waren für mich Elise, Martha, Christel, ich weiß nicht, wer da sonst noch rumsaß. Ich weiß, dass ihr auf Seiten der Jungen noch sehr viel mehr Personal hattet.

Gibt es irgend etwas aus dieser Zeit, was Du als schön empfunden hast?

Die Zeit an der Oberlinschule. Ans Johanna-Helenen-Heim möchte ich nie wieder zurückdenken müssen.

Waren denn da nie schöne Augenblicke?

Vielleicht zu Weihnachten, wenn wir Geschenke kriegten, wenn der Tisch festlich gedeckt war, oder wir in der Laienspielgruppe unseren Auftritt hatten. Aber schön, dass kann ich nicht sagen.

 

Ich wiederholte nun eine Frage, die sie zuvor mit einer Körperbewegung beantwortet hatte, wobei die Antwort ganz klar als „Ja“ zu verstehen war. Allerdings machte ich ihr begreiflich, daß im Rahmen einer schriftlichen Dokumentation die Antwort klar artikuliert werden müsse:

Hat Geschlechtsverkehr stattgefunden?

Kopfnicken.

War dieser häufig?

Jedes mal, wenn er konnte und wir uns gesehen haben. Deswegen hatte ich ja immer unheimliche Angst, ihm alleine zu begegnen.

Wie war das Gefühl nach seiner Verhaftung?

Erleichterung. Ich konnte durch die Schule laufen, durch die Aula, ins Büro gehen, wieder unsere Bücher holen – da war keiner mehr, der ... wo die Angst weg war.

Wie empfindest Du heute über ihn?

Ich hoffe, dass er nicht sehr alt geworden ist. Und sonst wünsche ich ihm noch heute die Pest an den Hals.

 

Kannst Du Dich erinnern, als wir uns damals im Hermann-Luisen-Haus nach Jahrzehnten getroffen haben? Du hast damals was gesagt, was mich bis heute beschäftigt und wir sind dabei, heute auch diesbezüglich etwas zu tun. Da hast Du eine bestimmte Angst formuliert. Kannst Du diese noch einmal wiedergeben?

Daß ich nie wieder in einem Heim enden will, ja. Nein, das mache ich nicht, da springe ich lieber von der Brücke.

Welche Hilfen könntest Du Dir denn vorstellen, damit Du nicht in ein Heim brauchst?

Erst einmal müsste man das finanziell klären, denn soviel Einkommen kann man ja gar nicht herbeischaffen, um mich da abzusichern. Auf der anderen Seite würde ich schon meine eigenen vier Wände wünschen, in die ich mich zurückziehen kann. Ich weiß nicht, ob ich heute schon in der Lage bin, mit anderen zusammenzuleben, ohne Rückzugsmöglichkeit. Wenn ich, glaube ich, eine Rückzugsmöglichkeit hätte, für mich selber, weil ich die letzten Jahre auch für mich selber zuständig war, dann ja. Aber was ich nicht möchte, ist dieses Gefühl zu haben, die sitzen Dir im Nacken. Ich drück es wahrscheinlich falsch aus, aber Du weißt, was ich meine. Das möchte ich also nicht.

Könntest Dir so etwas vorstellen wie Behindertenassistenz, wenn Du beispielsweise nicht mehr einkaufen gehen kannst  und so was...

Ja! Damit ich dann in meinen eigenen vier Wänden bleiben kann. Das wäre natürlich noch besser.

Könntest Du Dich auch mit dem Gedanken anfreunden, dass die Anstalten in Hagen, in unmittelbarer Umgebung der Fußgängerzone, ein Haus für Ehemalige anbietet, wo jeder seine eigene Wohnung hat, sagen wir 40 bis 60 qm, wo dann aber auch rund um die Uhr Assistenz zur Verfügung steht?

Ich glaub im Endeffekt, wenn’s gar nicht anders ginge, ja. Aber das wichtigste ist, dass diese Angst im Nacken weg ist.

Also, für Dich ist es überhaupt nicht vorstellbar, dass Du eines Tages ins Altersheim gehst?

Heim überhaupt nicht. Ich hab auch heute zum Teil in unserer Gesellschaft das Gefühl, da hat sich leider Gottes nicht viel geändert. Und muss ich das im Alter wieder haben? Ich hab mich gerade erst einigermaßen freigeschwommen. Du wirst nicht jünger, ich werd nicht jünger. Sagen wir mal, ich werde in drei Jahren auch 60, aber ich fang doch dann nicht da wieder an, wo ich mit 15 aufgehört habe ... ne, das schaffe ich nicht. Ich hab das auch damals so meinem Hausarzt gesagt. Ich bin ja, vor 3 Jahren, als alles wieder hoch kam, zu meinem Hausarzt gegangen und hab ihm es erzählt. Soweit wie ich konnte. Und dann kam das erste: Warum kommst Du jetzt erst an damit? Er hat mir dann ne ganze Weile mit Medikamenten geholfen, damit ich erst mal so innerlich wieder einen gewissen Pegel erreichen konnte. Und zu dem habe ich auch gesagt: Im Leben kann so einiges passieren, aber ich gehe nie wieder in so einen Bunker. Und da hat er gesagt, dass er mit dafür sorgen würde, dass ich es nicht brauch.  Ich hoffe und wünsche mir auf der anderen Seite für uns, dass wir ein recht langes Leben haben und dass man sagt, Dich stecken wir nirgendwo mehr hin. Das geht ja gar nicht. Aber wir wissen alle nicht, was kommt. Es kann in Null-Komma-Nix was ganz anderes da sein. Also sagen wir mal so: Ich könnte mir ... vielleicht ... aber nicht betreuen, allein das Wort. Man hat mich lang genug betreut. Nein, aber wenn das so ist wie Du sagst, wenn dann Hilfe da ist, wenn man sie braucht und zur Not rund um die Uhr, dann ja, aber sonst möchte ich für mich meinen eigenen privaten Bereich haben.

Wir haben ja durch die Historiker und durch unsere Aktivitäten klar machen können, dass in Volmarstein nicht nur Liebesentzug – wie Pastor Springer einmal formuliert hat – sondern auch handfeste Verbrechen stattgefunden haben. Und diese an Dir gehören dazu. Was erwartest Du von der Evangelischen Stiftung Volmarstein heute?

Daß die einfach aus der Geschichte heraus sich auf die Socken machen und für uns was fürs Alter tun. Die haben für uns in den jungen Jahren nichts getan. Dann sollen die jetzt was fürs Alter tun.  Weil, wir wissen alle, wo wir sonst enden und ich glaube nicht, dass das irgendwer von uns will. Und zwar ohne Angst im Alter leben zu müssen. Und nicht sagen zu müssen, ich krieg da wieder irgendwas, was ich nicht mag und wenn ich nein sage, werde ich zwangsernährt mit meinem eigenen Erbrochenen.

Ist das die einzige Erwartung die Du hast, oder ...?

Ich möchte im Alter das, was wir uns erarbeitet haben ... im privaten Bereich .... ich möchte meine Freiräume weiterbehalten. Ich mag keine Einschränkungen mehr. Ich weiß auch nicht, ob ich in der Lage bin, mich soweit wieder zurückzunehmen. Ich bin bereit, für alle anderen da zu sein, wenn wir untereinander Hilfe bräuchten, auch in so einem Haus, aber was mir ganz, ganz wichtig ist, ist mein privater Bereich.

Würde Dir eine Entschuldigung auch helfen?

Inwiefern soll mir eine Entschuldigung helfen? Die, die uns das angetan haben, leben nicht mehr. Da kann sich die Evangelische Stiftung entschuldigen. Die können es probieren. Wenn da überhaupt was kommt. Die hätten uns als Kinder und Jugendliche glauben sollen. Und das ist ja auch das, was ich dem Schmuhl gesagt habe ...

Und eine Entschädigung?

Wie kann man das entschädigen? Wie stellst Du Dir das vor für Dich? Wir wollen ja gar nicht viel, ich will ja nur ein ruhiges Leben ohne große ... ich muss ja nicht Millionen am Hintern haben ...

 

Eine Frage noch: Welches Kürzel soll ich in den Bericht schreiben?

Was nehmen wir für ein Kürzel? HB.

Welches Gefühl hast Du, nachdem Du mir das alles erzählt hast? Ist das eher bedrückend, oder..?

Im Moment erst mal Erleichterung. Im Moment. Im Moment fühle ich mich ein bisschen freier, weil einfach mal drüber gesprochen wurde. Was dann noch kommt, weiß ich nicht. Irgendwann krieg ich bestimmt wieder eine um die Ohren. Aber damit kann ich umgehen. Also jetzt im Moment ist es wichtig, dass Du es weißt und es ist ja auch wichtig.