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  Heute 60-Jähriger brachte als Kind schwere Verletzungen aus Volmarstein mit  : Verbrennungen an Leib und Seele

Wetter, 09.03.2010, Klaus Görzel

Allein das Ausfahrt-Schild an der Autobahn weckt auch heute noch Beklommenheit bei dem mittlerweile Sechzigjährigen.

 Volmarstein hat für ihn einen schrecklichen Klang behalten, obwohl die Zeit seines Leidens weit zurück liegt. Sein Leiden, das ist nicht die längst korrigierte Skoliose des Rückgrates. Was ihn verfolgt, das sind die schrecklichen Erlebnisse in den Kinderbetten der orthopädischen Klinik. Mit ihnen ist der Mann, der aus Hagen kommt und im Münsterland seine Heimat gefunden hat, nicht ganz allein. Das jedenfalls ist aus dem Echo herauszuhören, das die Aufarbeitung der Geschichte des Johanna-Helenen-Heims gefunden hat.

„Aus Volmarstein hast Du das”, hat seine Mutter gesagt, wenn er nach der Herkunft seiner Narben an Oberschenkel und Rücken fragte. „Aus Volmarstein”, hat er zur Antwort gegeben, wenn er bei ärztlichen Untersuchungen auf die Narben angesprochen wurde. Was genau vorgefallen war in Volmarstein, wo der gerade mal Zweijährige wegen einer Skoliose in Gips gelegen hatte, wollte die Mutter nicht sagen. Über Jahrzehnte nicht. Jetzt hat sie es aber auf Bitten ihres Sohnes doch getan.

Vielleicht, um sich die Last ein wenig von der Seele zu nehmen, sagt der Sohn, der nun endlich Anhaltspunkte hat für das, was damals geschehen ist: „Meine heute 83-jährige Mutter hat endlich ihr Schweigen gebrochen und mir bestätigt, dass ich in der Krüppelanstalt Volmarstein während meines Aufenthaltes körperlich misshandelt und unter anderem verbrüht wurde, wie auch immer. Ein vorsätzliches Handeln lässt sich aber nicht mehr beweisen.” So kann es jeder nachlesen, der auf den Seiten der Freien Arbeitsgruppe Johanna-Helenen im Internet nachblättert. Die Gruppe hat sich vor vier Jahren gegründet, als die Evangelische Stiftung Volmarstein als Nachfolgeeinrichtung der Krüppelanstalten damit angefangen hatte, sich den Missständen im Johanna-Helenen-Heim der unmittelbaren Nachkriegszeit zu stellen.

Viele der Opfer von damals haben Berichte von ihrem Leid in dem Heim für körperbehinderte Kinder geschickt. In vier Fällen gerät auch die orthopädische Klinik mit ins Blickfeld. Schwester Anna Pawlowski und ihre Helferinnen auf der Kleinkinderstation waren der Schilderung eines der kindlichen Opfer nach „mit Ohrfeigen rasch zur Hand”, heißt es im Manuskript für das Buch, das die ESV bei zwei Historikern in Auftrag gegeben hat und das nächste Woche vorgestellt werden soll. Der damalige Klinikleiter selbst soll Kinder regelmäßig durch Schläge und Ohrenkneifen misshandelt haben, schildert ein kleiner Patient von damals heute.

Den Namen des Chef- und Stationsarztes hat auch die 83-jährige Mutter noch nennen können, fast sechzig Jahre nach den Vorfällen in Volmarstein. Nicht als unmittelbaren Täter, aber als Verantwortlichen in den Jahren, als ihrem Jungen dieses Leid zugefügt wurde. Von einer anderen Mutter, die ihr Kind dort auch untergebracht hatte, habe sie während der gemeinsamen Rückreise mit der Eisenbahn von Volmarstein nach Hagen erfahren: Weil er die Nahrungsaufnahme liegend in seinem Gipsbett verweigert habe, sei der Zweijährige in irgend einem Zusammenhang verbrüht und geschlagen worden.

Aus Volmarstein hat der Mann, der später sein Geld als Leitender Medizintechniker verdient hat, nicht nur die Narben mitgebracht. Seit Kurzem erst sieht er es bestätigt, dass seine Angstzustände, wenn er anderswo Essen gegangen ist, etwas mit den Erlebnissen in der Klinik zu tun haben. Hinters Sofa ist er anfangs als Zwei- bis Dreijähriger geflüchtet, wenn er zuhause zum Essen gerufen wurde. Das hat ihm die etwas ältere Schwester aus den Jahren erzählt, an die ihm die eigene Erinnerung fehlt.

An die Zeit bei der Bundeswehr und das Essen in der Gemeinschaft aber kann er sich noch erinnern und daran, dass sein Gewicht auf 70 Kilogramm hinunterging. Auch daran, wie seine Mutter ihn geschickt in Schutz zu nehmen wusste, wenn es bei Besuchen Einladungen zum Essen gab. Und auch später noch, bei geschäftlichen Terminen und Einladungen zum Essen war er da, dieser unerklärliche Druck, der jetzt plötzlich eine Geschichte bekommen hat, seit die Mutter ihr Schweigen gebrochen hat.

Natürlich steht die Frage im Raum, warum sie nicht früher etwas gesagt oder unternommen hat. Der Sohn ist weit davon entfernt, über sie zu richten, glaubt ihr die Angst, dass es auf den Jungen zurückfallen könnte, wenn sie sich wehrt - und auf die Schwester, die zur gleichen Zeit wegen eines operierten Klumpfußes mehrere Jahre im Johanna-Helenen-Heim verbracht hat. Nach Aussage der Mutter ist es sogar zu einem Gerichtsverfahren gegen bestimmte Personen innerhalb der damaligen Klinik gekommen. Die Evangelische Stiftung Volmarstein kann auf Anfrage der Zeitung weder bestätigen noch bestreiten: 30 Jahre dauere die Aufbewahrungsfrist für Krankenakten. So weit lägen Unterlagen auch vor, nicht aber über die Jahrzehnte davor.

Bei dem Versuch, Klarheit in die Erlebnisse seiner frühen Kindheit zu bekommen, hat sich auch der 60-Jährige im April 2006 an die heutige Orthopädische Klinik der Evangelischen Stiftung Volmarstein gewandt. Ohne Antwort, wie er sagt. Mittlerweile hat ihm der neue Vorstand der Stiftung geschrieben. Sonstige Anfragen zu möglichen Misshandlungen im Bereich der Orthopädischen Klinik gebe es nicht, versichert Carola Wolny-Hubrich von der Pressestelle der ESV.

Wiedergutmachung? Das ist nicht das Ziel des Mannes. Wie soll sie auch aussehen, fragt er? Finanzielle Leistungen lehnt er ab. Schon eher, dass gesagt wird, was und wie es wirklich war. Nicht nur im Johanna-Helenen-Heim der frühen fünfziger Jahre, sondern - im Ausmaß wohl nicht vergleichbar aber doch - auch in der Klinik der damaligen Anstalten Volmarstein.

http://www.derwesten.de/staedte/wetter/Verbrennungen-an-Leib-und-Seele-id2696813.html

Von: JB
Gesendet: Montag, 4. Januar 2010 11:30
An: kdickneite @ online.de
Betreff: Leid in Volmarstein

Sehr geehrter Herr Dickneite,

seit Jahren verfolge ich die Aufarbeitung der grausamen Ereignisse die in Volmarstein u.a. im Krüppelheim passiert sind. Die Spuren der grausamen Vorkommnissen an den Kindern- die dort auch stationär untergebracht wurden- sind nie richtig aufgearbeitet worden. Auch ich war dort in den Jahren 1949-50 wegen einer Rachitis teilstationär untergebracht. Meine heutige 83 jährige Mutter hat endlich ihr Schweigen gebrochen und mir bestätigt, dass ich in der Krüppelanstalt Volmarstein während meines Aufenthaltes körperlich schwer misshandelt u. u. a. vorsätzlich verbrüht wurde, weil ich die Nahrungsaufnahme im Liegen (Gipsbett) verweigert hatte. Ich konnte für mich bis vor einigen Jahren nicht nachvollziehen woher die Narben an  verschiedenen Körperstellen herstammten, weil meine Mutter ja aus Angst geschwiegen hatte. Sie selbst wurde damals von einer anderen Mutter vor der Krüppelanstalt angesprochen und darüber informiert, was passiert war. Angeblich soll es auch zu einer Gerichtsverhandlung gekommen sein in der die betroffenen Personen zum Sachverhalt angehört wurden. Meine Eltern mussten schweigen, weil Ihnen mitgeteilt wurde, dass die Behandlung in der Krüppelanstalt sonst eingestellt würde. Ich leide teilweise auch noch heute als 60 jähriger unter diesen Angstzuständen, die mich mein ganzes Leben begleitet haben, wenn ich woanders zum Essen gehe oder zum Essen eingeladen werde.

All diese Dinge sind im Namen des Herrn geschehen. Ich habe Ihnen deshalb diese Zeilen geschrieben um zu verdeutlichen, dass sich auch konkrete Spuren der Misshandlung in den medizinischen Bereichen (damalige Krüppelanstalt) finden lassen.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg bei Ihrer Aufarbeitung und kann Sie nur bewundern, wo Sie diese Kraft hernehmen.

Mit freundlichen Grüßen
 

[Adresse liegt der FAG vor]

Westfälische Rundschau
Lokalredaktion Wetter
Klaus Görzel 10.03.2010