DER TAG NIMMT SEINEN LAUF
Wer nach den Schulstunden, die um 12 Uhr endeten, nicht pünktlich, also um 12 Uhr, in den Speiseraum zurückkehrte, den erwartete selbstverständlich
ein gehöriger Tadel, eine Strafpredigt, eine Beschimpfung, eine Verunglimpfung. Je nachdem, welche Laune die Schwestern in ihrer Freizeit von 8 Uhr bis 12 Uhr entwickelt hatten.
Jeder musste seinen Blechteller leer essen. Es galt das Sättigungsprinzip. Dabei konnte es schon mal passieren, dass der Hering in der Milchsuppe
serviert wurde. Die Tellergerichte waren eintönig bis ungenießbar. So gab es jeden Montag die Wurstreste der vergangenen Woche mit Graupen. Mittwochs die dicken Nudeln und Möhrenstückchen neben
Speckschwartenknubbeln, an denen regelmäßig die Borsten empor standen. Wer sich getraute, der steckte die Speckknubbel in die Hosentasche und ließ sie beim Freigang verschwinden oder versenkte sie in der
Toilette.
Mein Freund Jochen R. war magenkrank und erbrach die stinkende, steife Pampe in seinen Blechteller. Schwester J. füllte ihm mit Gewalt das Erbrochene
in den zwangsgeöffneten Mund ein. Widerwillig stieß er sich vom Tisch ab und fiel mit seinem Stuhl rücklings auf den Boden. Diese Situation verlangte nach der Hilfe der herbeigerufenen Diakonissen des
Mädchenspeisesaals. Hier bildete sich schnell ein Team. Jeweils eine Schwester kniete auf einem Arm des am Boden liegenden, gekreuzigten Jungen. Die Dritte öffnete ihm gewaltsam den Mund und Schwester Jenny
flösste ihm erneut den erbrochenen Rest ein. Verängstigt sahen wir dem Geschehen zu. Wir senkten den Blick und wagten nicht, aufzubegehren, konnte uns doch gleiches Schicksal jeder Zeit ereilen. Die Macht der
Schwestern war unbegrenzt. Wir waren Augenzeugen und erlebten so selbst eine Folter, ohne das Wort dafür zu kennen.
Die guten Läufer unter uns durften gelegentlich Hilfs- und Einkaufsdienste für die Schwestern erledigen. Es bot sich somit die Möglichkeit, in den
Schwesternspeisesaal zu blicken, und dabei wurde schnell entdeckt, welche leckeren Speisen für die Schwestern bereitgehalten wurden.
So wussten wir also, dass die Schwestern ihre Speisen an festlich gedeckter Tafel, mit Porzellan auf weißen Tischtüchern oder Tischläufern
einnahmen.
KLEINE GESCHENKE ERHALTEN DIE FREUNDSCHAFT
Zum Geburtstag oder aus anderem Anlassen bekam ich von meiner Mutter oder Tanten gelegentlich Briefpost oder ein Geschenkpaket. Süßigkeiten und
Kleidung waren wohl neben kleinem Spielzeug der Hauptbestandteil der Geschenke. Es dauerte eine Weile, bis ich herausfand, dass die Post geöffnet und kontrolliert wurde. Gutgläubig und vertrauensselig zu meiner
Bezugsperson, wie ich erzogen worden war, rechnete ich nicht mit solchen Maßnahmen. Von einem Postgeheimnis hatte ich nie etwas gehört. Mit dem Argument: „… auch die anderen Kinder, die kein Paket erhalten,
möchten was haben; es muss verteilt werden!“ – schrumpfte der Inhalt meiner Gaben auf ein Minimum. Auch der Hinweis: - „… du sollst nicht alles auf einmal essen! Wir verwahren es für dich.“ führte oft
zum Totalverlust. Wenn ich nach einiger Zeit nachfragte ob ich von meinen Süßigkeiten, die in einem verschlossenen Schrank auf dem Flur verwahrt wurden, noch etwas haben dürfte; bekam ich oft die Antwort: -
„… das ist längst verteilt und die armen Kinder in der DDR sollen doch auch etwas bekommen!“ Die Hinweise der etwas einfältigen Fräulein Schr.: - „… oh, du hast aber gute, leckere Sachen bekommen!“
nährten eine dunkle Ahnung über den Verbleib meiner Zuteilungen.
Bei einem Heimaturlaub in den Schulferien erhielt ich einen Baukasten zu Herstellung eines Detektor-Radios. Mit diesem Einführungswerk in die
Ursprünge der Elektrotechnik konnte ich nach erfolgter Konstruktion, ohne weitere Energiequelle, Radiosendungen meist nur während der empfangsstarken Abendstunden hören. So muss ich bei leiser Musik aus den
Kopfhörern wohl eingeschlafen sein. Jäh weckte mich die zornige Stimme von Fräulein Schr.: „… hab ich dich doch erwischt, jetzt ist Schluss damit!“ Und mein geliebter Radioempfänger war mir entrissen. Als
ich nach langer Zeit immer wieder die Rückgabe erbettelte, fehlte der unabdingbare Germaniumkristall. Nach anfänglichem Lob über den guten Empfang äußerte Schwester Jenny nun, nichts über den Verbleib zu
wissen. An Aufbegehren war natürlich nicht zu denken. Hatte ich mir doch den Verlust selbst zuzuschreiben?! Nun war meine Kariere als Radiotechniker beendet. Den Verlust von neuer Kleidung konnte ich verschmerzen.
Live-Stil war damals noch nicht gefragt.
FREIGANG
Das besondere Ereignis an jedem Mittwoch war der Freigang auf dem Hinterhof zwischen Leichenhalle und Dorffriedhof. Hier spürten wir, zwischen den
Leichen, die Wärme der Sonne.
Auch draußen gab es kein Spielzeug, wir hatten nur uns selbst. So schoben wir unsere Mitbetroffenen in deren Rollstühlen hin und her. Es konnte uns
helfen, die Illusionen aus der Vergangenheit zu bewahren, als wir noch mit Roller und Spielauto tun und lassen konnten, was wir wollten. Jeden Moment konnten uns die Schwestern zur Unterlassung ermahnen. Wenn die
Schwestern keine Lust hatten, nach draußen zu gehen, weil es ihnen zu kalt oder zu warm war, fiel der Freigang für uns aus.
Die Spielgeräte, wie sie auf Bildern heute so gerne vorgeführt werden, gab es zu meiner Zeit noch nicht.
RELIKTE HALTEN DIE ERINNERUNG WACH, HOSPITALISMUS
Die Nachmittage fristeten wir regelmäßig in Langeweile und einem stumpfen Dahindösen.
Wenn wir nicht an den nachmittäglichen Sonderveranstaltungen der Schule wie Singen, Musizieren oder Werkunterricht teilnahmen, saßen wir an den
Esstischen mit den Gravuren unserer Vorgänger. Irgendwelche Phantasiegeschichten machten die Runde oder wir spielten mit den eigenen Fingern. Es gab kein Spielzeug, keine Bücher, keine Abwechslung. Einige fuhren
mit ihren Rollstühlen und Laufrädern umher. Wer einen Bindfaden ergattert hatte, konnte mit Freunden Fingerfadenspiele entwickeln. Wenn ich im hohen Mannesalter meine Mutter besuchte, sagte sie oftmals: „Lass
die Knibbelei an den Händen und Fingernägeln“. Ich habe das dann meist mit dem Gedanken ignoriert, dass Mütter ja immer an ihren Söhnen herummäkeln und verbessern müssen.
Nie habe ich darüber nachgedacht, wieso ich das mache und welche Ursache das haben könnte. Heute habe ich den Grund für mein zwanghaftes Handeln
erkannt.
Eine ehemals kurze Bekanntschaft wurde jäh beendet, als die Umworbene während einer emotionsgeladenen Denkpause auf meine Finger starrte und
erschrocken, aber bestimmt ihren Kopf fast unmerklich schüttelte. Ich beobachtete ihr Verhalten. Möglicherweise hatte sie während ihrer eigenen Sozialisation ein ähnliches Erlebnis und den knibbelnden Kandidaten
aus anderen Gründen aus ihrer Favoritenliste gestrichen. Nun verband sie mein Knibbeln mit ihren ehemaligen Erfahrungen und assoziierte dessen negative Fakten. Ich war die heiße Kartoffel, die sie fallen ließ.
In der Reflektion über dieses Ereignis erkannte ich die Spuren in der Vergangenheit. Der Körper vergisst nichts.
Während der langweiligen Nachmittage an den Tischen im Speisesaal war ich ebenfalls emotional gebunden in freudvolle und aktive Erinnerungen an mein
früheres Leben zu Hause. Die Isolation von jeglichem Spielzeug und Beschäftigung, gefangen in mir selbst, hatte diese Form des Hospitalismus bei mir verursacht.
http://www.psychologische-praxis.rielaender.de/Literatur/Hospitalismus.pdf
RECHT HAT, WER DIE MACHT HAT
In den letzten Tagen meines Heimlebens hatte wohl der Vater eines Mitschülers eine gut gemeinte Idee. Er stellte eine Holzplatte mit Straßenführungen
für Spielautos zur Verfügung. Jedoch, wir hatten keine Autos. Der beglückte Junge hatte zwar Autos, aber jeweils auch um Spielerlaubnis zu fragen. Just mit dem Erhalt von diesem großzügigen, von den Schwestern
missbilligten Geschenk ergab es sich, dass er in ungeahntem Ausmaß allerlei Untaten bezichtigt wurde. So durfte er fast nie mit seinem Eigentum spielen. Als er eines Nachmittags zur Strafe reglos neben seiner
Anlage in seiner Ecke stand, trat Fräulein Schr., die Hilfsschwester, in den Raum. Als sie die Tür mit wuchtiger Erschütterung ins Schloss hinter sich fallen lies, glitt die Holzplatte hinter dem Rücken von
Tobias mit lautem Knall zu Boden. Außer mir hatte keiner die Szene gesehen, weil sie sich jeweils hinter deren Rücken ereignete. Fräulein Schr. flippte ob der jetzt ja „erwiesenen, abgrundtiefen Bosheit des
Tobias“ aus. Ihre Hände ließ sie mit lautem Gebrüll und geifernd vor Wut auf Gesicht und Rücken des weinenden, Unschuld beteuernden Jungen tanzen.
Als Zeuge seiner Unschuld geriet ich auch in ihre Wuttiraden, weil ich versuchte, ihn ins rechte Licht zu rücken. Ohne großes Nachdenken sprang mir
das Missverhältnis zwischen vorbildhafter, gepredigter und gelebter, praktischer Gottesfurcht ins Gesicht. Mit dem von uns geforderten Nachleben brach ich nun jäh, wenn auch nur insgeheim, wegen der gefürchteten
Verfolgung bis zum Jüngsten Tag. Mit Rolf Anheier wollte ich eine neue Sekte gründen, die sich auf indianische und kommunistische Werte gründen sollte. Ein unumstößliches Rechtsempfinden entwickelte ich
seither. Das ist mir bisher erhalten geblieben, wenn ich mir auch nicht immer Freunde damit eingehandelt habe. Seit meiner Volljährigkeit bin ich aus der Kirche ausgetreten. Heute nähere ich mich der
buddhistischen Weltanschauung.
ISOLATION UND DUNKELHAFT WAREN DER ALLTAG
Wer wagte es noch, die Zeit vom Schulschluss um 12.00 Uhr bis zum Beginn des Mittagessens, ebenfalls um 12.00 Uhr, auf dem drei Meter breiten Flur zu
vertrödeln. Nein, die Möglichkeit, bei diesen drei Schritten einmal mit einem Mädchen zu sprechen, bot sich nicht. Auch ihnen war das Sprechverbot auferlegt worden und auch sie hatten Angst vor Bestrafung oder
Missbilligung durch die Schwestern. Selbst beim seltenen Freigang auf dem Hinterhof waren das blitzende Auge und die scharfe Zunge der Schwestern allgegenwärtig.
Pünktlich um 17.00 Uhr wurde das Abendessen eingenommen. Gelegentlich prosteten wir uns heimlich mit unseren Blechtassen zu. Die Eintönigkeit des
Essens war mir nicht stets bewusst, aber an unseren rohen Tischen träumten wir von Speisen, die wir aus Erzählungen oder aus unserem früheren Leben kannten.
Die „Einpacker“ (Kinder mit behinderungsbedingter Inkontinenz wurden lauthals von den Schwestern so genannt) kamen sofort hoch aufs Schlafzimmer.
Ein Glück jenem, der dem Strafgericht der Schwestern entgangen war. Ängstlich schlichen wir uns an dem unbeleuchteten Abstellraum gegenüber dem Waschraum vorbei, in dem oft Klaus hilflos abgestellt war. Er war
nicht der einzige, der an Hospitalismus litt. Hatte er wieder im Schlaf mit dem Kopf gewackelt oder nachts das Bett nass gemacht? Oft schon beim Frühstück wurde er vor den anderen Kindern verspottet. Lieber nicht
fragen, lieber nichts wissen, wie leicht könnte sich daraus eine Schuld oder Mitschuld ergeben; das würde ja zwangsläufig eine Strafe oder eine Strafpredigt zur Folge haben. Die Lehrerinnen züchtigten ganz
selbstverständlich und offen täglich mit Schlägen, voran Fräulein St. Die Methode der Schwestern war diffiziler, sie erzeugten psychischen Druck, dem wir Kindern nicht ausweichen und nicht standhalten konnten.
Offenbar hatte die mannhafte Gegenwehr von Bernd, dem muskelbepackten Großmaul, seinerzeit ihre Schlagkraft entkräftet und eine viel effizientere, für uns Kinder jedoch schmerzhaftere Form der Züchtigung
herbeigeführt.
UNTER WEISSEN SEGELN AUFS WELTENMEER
Auch wir hatten nach dem Zähneputzen um 18.00 Uhr in den Betten zu liegen. Pünktlich ging dann das Licht aus und der Tag war zu Ende. An den
sommerhellen Abenden, oft war es noch bis 23.00 Uhr hell, hatten wir im „Großen Zimmer“ den Blick auf den nahen Harkortsee über das Dach des Hauses, in dem Pastor V. und Dr. X. wohnten. Während dieser Zeit
saß ich mit meinem Freund Rolf Anhaier oft verbotener Weise am Fenster des Schlafsaales und wir träumten von verwegenen Abenteuern. In der Ferne glänzte der Harkortsee. Die kleinen Ruderboote regten uns zu
Träumen über Flucht und Freiheit an. Ich erträumte mir die Fahrt in einem Nachen. Ein Diebstahl würde hoffentlich unentdeckt bleiben. Er würde mich die Ruhr hinuntertragen und über den Rhein in eine große
Hafenstadt bringen. Dort würde ich mich als blinder Passagier unter der Persenning eines Rettungsbootes verstecken. Nachdem wir den Hafen verlassen hätten und Richtung Amerika, Afrika oder Indien unterwegs wären,
hätte ich mich dem Kapitän als Bootsjunge vorgestellt und wäre sicher dann als tüchtiger Seemann auf den Weltmeeren zu Hause. Unserem jetzigen Schicksal wären wir mit Freuden entronnen und sähen glorreichen
Abenteuern entgegen. Tom Sawyer und Huckleberry Finn waren damals unsere Vorbilder.
DAS HUSARENSTÃœCK
Eines Tages durfte Rolf Anhaier vom „Kleinen-Zimmer“ ins „Große-Zimmer“ umziehen. War es die gute Führung oder das Jahr, um welches er älter
geworden war? Egal, wir waren endlich Bett an Bett und konnten uns bis in die Nachtstunden unterhalten. Wir waren seit langem die Ältesten in der Klasse und unzertrennliche Freunde. Wir schmiedeten Pläne und
tauschten unsere Empfindungen und Erfahrungen über alles aus, was so ein Jungenherz in der Pubertät bewegt.
Hannelore war die Auserwählte von Rolf. Mich hatten die Tränen von Gertrud gerührt, als ich sie engelsgleich im Windfang des Hofeingangs entdeckte.
Steif und kein Wort redend stand sie vor mir. Ich ahnte damals nicht, was mit ihr geschehen war. Erst heute hat sie mir gestanden, wie sie aus dem allgemeinen, öffentlichen, gesellschaftlichen Leben eines jungen
Mädchens mit Elvis-Träumen in die Zwangssituation dieser isolierten Kinderverwahrstätte gesteckt worden war.
Damals wollten wir das Sprechverbot mit den Mädchen überwinden und so beschlossen wir, in der Nacht heimlich auf die Mädchenstation zu schleichen.
Rolf hatte schon den ungefähren Weg auskundschaftet. Mit den quietschenden und klappernden Gelenken unserer Beinorthesen hätten wir zu viel Lärm gemacht. So lief ich auf nackten Füßen und Rolf lief auf den
Händen im Handstand (der geneigte Leser hat sicherlich den Handstand-Lauf des Teilnehmers der letzten Olympiade beobachtet). Mit einem Schlag waren alle Mädchen hellwach und kicherten und tuschelten. In der
Dunkelheit war es nicht so leicht, die Auserwählte im Mädchensaal zu finden. Auf der Bettkante blieb uns vor Aufregung und Verlegenheit bei der körperlichen Nähe das Wort im Halse stecken. Alles war geplant, nur
was wir sagen wollten hatten wir uns nicht überlegt. Das Herz klopfte bis zum Halse und der Rückweg an den Schwesterzimmern entlang lag noch vor uns. Das Meisterstück war uns geglückt. Am nächsten Morgen
blieben uns noch Sekunden, um zu hören, dass die Schwester der Mädchen zwar Geräusche gehört habe, jedoch mit dem Hinweis auf den Gang zur Toilette eines unbeholfenen Mädchens beruhigt worden war. Der Kelch war
an uns vorüber gegangen.
FLUCHT VON ROLF ANHEIER UND AXEL HAGER
Mit diesen Träumereien im Kopf entwickelte sich in uns ein Fluchtplan, den ich mit Rolf schmiedete und ausschmückte. An einem Regenabend, es darf
schon November gewesen sein, schritten wir zur Tat. Ein Bündel wurde geschnürt und leise kleideten wir uns an. Bei dieser Gelegenheit erkannte ich die Tragweite und Gefahr unserer verbotenen Flucht, - ich
kniff. Behände sprang Axel Hager an meiner Stelle ein und in traumwandlerischer, zwanghafter Dynamik gelang es ihnen, unbemerkt das große Haus zu verlassen. Nach kurzer Zeit plagten mich Gewissensbisse, dass ich
sie ohne Verpflegung und Regenschutz hatte gehen lassen. Am nächsten Morgen, nach der entdeckten Flucht, drohte mir bestimmt die rohe Gewalt der Schwestern. Mit Zögern und wankendem Mut schlich ich noch am Abend
zum Zimmer von Schwester Jenny und verpfiff meine Freunde. Die Angst vor den Schwestern und dem strafenden Arzt wechselte mit der Furcht vor der Missachtung meiner Freunde und dem Verlust ihrer Freundschaft.
Noch am gleichen Abend brachte die Polizei, kaum zwei Stunden später, Rolf und Axel müde und durchnässt bis auf die Haut wieder ins Haus. Die
Strafversetzung zurück ins ungeliebte Zimmer der Kleinen war für Rolf wegen seines schon ellenlangen Strafregisters schon ausgesprochen und drückte stärker auf unsere Moral, als die verunglückte Flucht in die
Freiheit.
DEM TOD INS AUGE GEBLICKT
Diese und noch weitere, ähnlich frustrierende Erlebnisse mögen unsere Stimmung und Gedanken in eine melancholische und depressive Richtung geführt
haben. So sprachen wir an den langen Abenden oft darüber, was wäre wenn, was wir täten wenn wir könnten, was geschähe, wenn wir nur wollten, oder warum alles so traurig ist, wie es ist. Besonders Gustav und
Axel Hager steigerten sich in Gedanken um den Tod hinein. Bei Axel gipfelte es darin, dass er sich eines Abends in sein Bett stellte und an der Zimmerdecke mit der Hand an dem Heizungsrohr herumfummelte. Er
demonstrierte, welchen Knoten er knüpfen würde. Es war natürlich der Henkerknoten. Zum Glück war Gustav viel zu faul, um im Bett zu stehen und sich einen Knoten zu binden. Er hätte sich bestenfalls einen Knoten
binden lassen und mit dem reichlich vorhandenen Taschengeld seines Vaters bezahlt. Als gutbetuchter Gastwirt steckte dieser ihm, und eventuell auch den Schwestern, sicherlich ein gutes Salär zu. Dem Gustav wurde
jedenfalls auf wundersame Weise nie ein Härchen gekrümmt oder ein missbilligendes Wort gesagt.
Mich beschlich die Angst um den Tod und den Verlust des lieben Freundes. Mit Fleiß, aber noch ohne Können, redete ich ihm den Suizidversuch aus. Oder
verließen ihn der Mut und der Schneid, den er stets zeigte? Zu unserem Glück erfuhren die Schwestern nie von diesem Ereignis, erlösen mussten wir uns selbst.
DER RICHTER IN WEISS; Visite Dr. X.
War es jede Woche oder jeden Monat, dass die Visite vom kleinwüchsigen Oberarzt Dr. X. anstand? Er war die strafende Vatergestalt, mit der die
Schwestern uns stets drohten und der bei herannahendem Termin zum Goliat mit flammendem Schwert heranwuchs.
Der Speisesaal wurde zum Richtplatz. Der Richter in Weiß, flankiert von den Schwestern, hörte sich die Untaten eines jeden von uns an.
Welcher Tat wurde ich bezichtigt? Einen beliebten Zeitvertreib nachahmend hatte auch ich eines Tages meinem Tischnachbarn den Stuhl unter dem Hintern
hinweg gezogen, als er sich zur Mittagszeit hinsetzen wollte. Natürlich hatte er sich verletzt und mörderisch geschrieen. Dies trugen die Schwestern nun triumphierend vor.
Mit böser Miene wurde ich vor den Richter zitiert. Nach bangem Schweigen wurde mein Urteil gefällt. Mit meinem eigenen Krückstock wurde mir der
Hintern so lange versohlt, bis der Gummistopfen am unteren Ende des Stockes sich durch die Wucht löste. Jetzt ließ er von mir ab und von nun an hatten die Schwestern bei jeder Gelegenheit das probate Druckmittel,
um mich stets nach ihrem Willen gefügig zu lenken.
Die Liebe eines Vaters nach einer rechten Tracht Prügel wurde uns leider nicht zuteil.
Mit der Zeit entstand ein Druck der Ungewissheit. Allein durch die maßgebliche Aussage der Schwestern, eine Untat begangen zu haben, stellten sich bei
mir und meinen Mitschülern Unsicherheit und Angst ein. Beim Herannahen oder bloßer Beobachtung durch unsere Aufsicht, von der Putzfrau über die Schwestern und Lehrerinnen bis zum Pastor, änderten sich abrupt
unser Verhalten und somit langfristig auch zumindest meine psychische Verfassung.
MITLEID UND ANTEILNAHME KANNTEN WIR NICHT, ES WURDE NICHT GELIEBT
In unserer Lebenssituation war lediglich die Grundversorgung sicher gestellt. Für unsere Wünsche nach Spielzeug, Anteilnahme und Lebensfreude gab es
keinen Raum.
War es die Lebenssituation, die die Schwestern ja mit uns teilen mussten, oder waren es möglicherweise die schlimmen Erfahrungen, welche sie auf ihrer
Flucht aus Ostpreußen gemacht hatten, die sie so gefühlskalt machten? Wir waren das Objekt ihrer ungeliebten Tätigkeit. Mit Bitterkeit erkenne ich heute, wie uns allen ein Quäntchen Mitleid, Liebe und
Anerkennung von den Schwestern gefehlt hat.
Mitleid ist selbst bei Tieren ein gängiges und selbstverständliches Verhalten.
(In einer Fernsehsendung bei Arte, am 19.08.06, 20.00 Uhr: „Kunst und Mythos“, wurde ausführlich darüber berichtet, wie in der Mongolei
Kamelstuten dazu bewegt werden, neben ihrem eigenen auch verwaiste Fohlen trinken zu lassen. Geübte Frauen oder Spieler der Pferdegeige gingen nahe an die Stute heran und sangen bzw. spielten getragene Weisen in
immerwährendem Gleichklang. In frappierender Dokumentation wurde dargestellt, wie aus beiden Augen einer Stute Tränen flossen und ein verwaistes Fohlen an der mitleidsvollen Stute trinken durfte.)
Wenn Vorbilder für Erkenntnisse und Lernerfolge wichtig sind, dann hatten wir keine oder die falschen Vorbilder. Gute Freunde, die meine Sozialisation
kennen, sagen mir gelegentlich: „Ja, du bist hart, weil du die Härte im Kampf ums Überleben im Heim brauchtest.“ Mit einem stummen Nicken stimme ich ihnen jetzt in ihrer Bemerkung zu. Auch ich muss mich dieser
bitteren Erkenntnis anschließen. Mehr und mehr erkenne ich Verhaltensweisen, mit denen ich bei meinen Zeitgenossen auf Unverständnis, Unwillen oder Ablehnung stoße. Nur allmählich finde ich seit einigen Jahren
den Zugang zu den Wurzeln meiner Andersartigkeit.
KONZENTRATIONSSCHWÄCHE
OBERFLÄCHLICHKEIT
FLATTERHAFTIGKEIT
UNZUFRIEDENHEIT
UNSICHERHEIT
Die häufigen Aufforderungen zu diesem oder jenem, die Ermahnungen in diese oder jene Richtung, führten bei mir zu zunehmender Unsicherheit. Heute so, morgen
so. Eine einmal eingeschlagene Richtung in Denken und Handeln wurde stets at absurdum geführt. Nie wurde meine Handlung gebilligt, anerkannt oder gar bewundert. Stets wurde ich niedergemacht, verhöhnt, belächelt.
Eigene Entscheidungen galten nichts.
Konzentrationsschwäche, Oberflächlichkeit in der Ausübung von Handgriffen, Flatterhaftigkeit bei Anspannung wurden die Mängel, die ich selbst
erkannte. Ich war unzufrieden mit mir.
Wenn ich heute mit 65 Jahren auf meine Entwicklung zurückschaue, muss ich mit Bitterkeit und Bedauern erkennen, dass mir viele Erkenntnisse und
Fähigkeiten erst sehr spät, wenn überhaupt, zuteil geworden sind. Als alter Mann mit 50 Jahren begann ich erst allmählich mit dem nötigen Selbstbewusstsein ohne innere Angst zu leben. Ich erlernte die Kraft des
positiven Denkens. Jahrzehnte meines früheren Erwachsenenlebens plagte mich die Demut vor Vorgesetzten oder der Obrigkeit. Die gelegentliche Aufmüpfigkeit gegen erlittenes Unrecht konnte ich nicht einordnen und in
geordnete Bahnen der Entschuldigung oder in die Erlangung meines guten Rechts einmünden lassen. Meine Entscheidungen wurden durch die erzwungenen Verhaltensweisen in jener Kindheit bestimmt. Ach hätte ich doch die
richtigen Verhaltensweisen erlernt.
VERLORENE, NEIN GESTOHLENE JAHRE DER KINDHEIT
Eine Wiedergutmachung ist heute, nach so langer Zeit, wohl kaum möglich. Die von der ESV angebotene psychologische Beratung ist in meinem Fall bestimmt
angezeigt. Meine Therapie würde sicherlich Jahre dauern. Wäre ich dann noch ich selbst? Ist mir noch zu helfen?
Die erlitten Schäden aufzuzeigen, aufzulisten und richtig zu benennen, ist mir in dem vorliegenden Bericht schon nicht gelungen. Ein Großteil der
Schäden ist keineswegs mehr zu Beheben. Ich muss damit leben. So weis ich, dass bei der Korrektur meines X-Beins das Ergebnis ein O-Bein ist. Das Risiko einer erneuten Operation würde ich selbstverständlich nicht
mehr eingehen.
Anlass für die hier vorgelegte Auseinandersetzung mit meiner Vergangenheit ist das Ärgernis über die anhaltende Verweigerung einer Entschuldigung der
ESV als Nachfolgeorganisation der Ehemaligen Orthopädischen Anstalten bzw. Krüppelanstalten, wie die ursprünglichen Bezeichnungen lauteten. Eine Anerkennung und öffentliche Entschuldigung für die erlitten
Schmach, Ehrbeschneidung, körperliche Züchtigung. Anerkennung und Entschuldigung für die nicht kindgerechte und nicht behindertengerechte Unterbringung, Versorgung, Beschulung, Beaufsichtigung, Förderung durch
unfähiges unausgebildetes Personal. Anerkennung und Entschuldigung für unberechtigte und unaufrichtige Indoktrination mit religiösen und gesellschaftsfremden Geistesinhalten und verklemmter Sexualmoral. Noch
immer werden die Gräueltaten wie Isolationshaft, Zwangsernährung, Folter in den verschiedensten Formen und Mängel an allen Fronten einer regulären Betreuung von behinderten Kindern mit dem Zeitgeist der
Nachkriegsjahre und der damit verbundenen Mangelsituation abgetan. Der Kirchenneubau jener Zeit offenbart die tatsächliche Finanzsituation und stellt die Behauptung über eine damals arme und schwierige Zeit ad
absurdum.
Die heutige Nachfolgeorganisation ESV ist offensichtlich nicht in der Lage, die Selbsthilfebemühungen der ehemaligen Betroffenen wirkungsvoll und
bedarfsorientiert zu unterstützen und sitzt die Auskunftspflicht gemäß SGB VII § 67, SGB X § 83 aus. Mit Einladungen zum Kaffeenachmittag versucht sie, den Erfordernissen genüge zu tun. Ihre Einlassungen
und Handlungen gehen nur so weit, wie sie dazu gedrängt wird.
Frankfurt im August 2007
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Veröffentlichungen, auch auszugsweise, in Ton, Schrift, Bild und Wort sind
erwünscht. Es bedarf jedoch der ausdrücklichen schriftlichen Genehmigung durch den
Verfasser: Horst Moretto, Oeder Weg 58, 60318 Frankfurt; morettohorst@yahoo.de
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