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Mein Freund Jochen R. war magenkrank und erbrach die stinkende, steife Pampe in seinen Blechteller. Schwester J. füllte ihm mit Gewalt das Erbrochene in den zwangsgeöffneten Mund ein.

Es gab kein Spielzeug, keine Bücher, keine Abwechslung. Einige fuhren mit ihren Rollstühlen und Laufrädern umher. Wer einen Bindfaden ergattert hatte, konnte mit Freunden Fingerfadenspiele entwickeln.

HEIM OHNE HEIMAT,

EIN LEBEN ZWISCHEN HIMMEL UND HÖLLE

Lebenserinnerungen aus der Jugendzeit in einem Heim für körperbehinderte Schülerinnen und Schüler in D 58300 Wetter-Volmarstein

Träger dieser Einrichtung ist die Evangelische Stiftung Vomarstein (ESV), ehemals: Orthopädische Anstalten Volmarstein; Krüppelanstalten Volmarstein

Ehemalige Schülerinnen und Schüler versuchen als „Freie Arbeitsgruppe JHH 2006“ die Aufarbeitung ihrer Vergangenheit, in der sie durch die Gräueltaten der Diakonissen, Lehrerinnen und Anderer oft erhebliche Schäden an Leib und Seele genommen haben. Wegen der verunglimpfenden Weise und Bagatellisierung der damaligen Ereignisse durch die ESV wurde diese Dokumentation notwendig. Sie dient gleichzeitig der eigenen Aufarbeitung und Bewältigung der erlittenen Schäden.

Hinter dem Altar der Holzkapelle befanden sich drei Fenster etwa zimmerhoch. Lehrerin St. brachte für jedes Fenster Laubsägearbeiten an. Zwischen den ausgesägten Elementen klebte sie buntes, lichtdurchlässiges Papier. So ergab dies ein Transparent mit drei Fenstern. Auf dem mittleren Fenster wurde die Geburt Christi dargestellt. Hier die drei Jungfrauen (linkes Fenster).

STURZ IN DIE VERGANGENHEIT

 Ein Zeitungsartikel über das Schicksal behinderter Kinder im „Johanna-Helenen-Heim“, den mein langjähriger Freund Ernst Börstler mir 2006 zugeschickt hatte, weckte längst vergessene, nein, verdrängte Ereignisse in mir. Im Sturzflug wurde ich in die Vergangenheit katapultiert. Auch ich war einst Schüler in diesem Heim der Orthopädischen Anstalten Volmarstein.

 Der damalige Vorstandsvorsitzende hatte in beschwichtigender und verharmlosender Weise Bezug auf die Folter und Gräueltaten an kleinen, behinderten Kindern genommen, von denen einige Organschäden erlitten oder, wie zu hören war, ihr Leben lassen mussten.

 Längst verschüttete Gefühle brachen vehement in mir auf. Schnell war ein mit Lanzen und Nadeln gespicktes Pamphlet entworfen, welches zum Schutz von Betroffenen anonym an die Zeitungsredaktion und den Schreiber des Leserbriefes ging.

 In langen, schweißnassen Nächten kam jetzt die Erinnerung wie eine Flut, nein, wie ein Tsunami, auf mich zu und drohte mich zu verschütten, zu ertränken, mir die Luft zum Atmen zu nehmen.

 Alle Bilder und Situationen wurden wieder präsent. Ja, ich durchlebte alle markanten Geschehnisse erneut mit der gleichen Intensität wieder. Alles war wieder da! Der Film meines bisherigen Lebens lief vor mir ab.

 Ich erkannte die Zusammenhänge zwischen den Erlebnissen der Kindheit und meinem heutigen Dasein.

 Mein Interesse an der eigenen Psyche hat mir rudimentäre Kenntnisse über die Verbundenheit von frühen Lebensereignissen und späterem Verhalten, mit den sich daraus ergebenden Auffälligkeiten, vermittelt. Mit der Nase wieder auf die längst verdrängten Ereignisse meiner Schulzeit gestoßen, wurde mir allmählich bewusst, wieso ich die verschiedenen ungeliebten Verhaltensmuster entwickelt hatte.

 Wie war das damals, wie hatte sich mein Leben entwickelt?

 

GEFANGEN UND GEKNEBELT

 Als die Tür hinter mir zuschlug, war ich gleichsam in einer neuen Lebenssituation. Meine Mutter war gegangen. Ich stand allein in dem weiten Flur. Vor Schreck musste ich aufs Klo. Dort waren die Fenster vergittert. Ich war „gefangen“!

 Die Schwester brachte mich aufs Zimmer. Keiner der Jungs wollte schon schlafen; sie jauchzten und waren noch geschäftig in ihren Betten. Gleichsam erstarrt saß ich in meinem Bett und nahm die unwirkliche neue Umgebung war.

 Der „Neue“ wurde alsbald ausprobiert. Walter nestelte unter meiner Bettdecke herum, ich wusste nicht wie mir geschah; bis Reinhard es ihm verbot. Es herrschte eine geordnete, wenn auch zerbrechliche Hierarchie. Von nun an hieß es, tapfer gegen die Angst anzukämpfen, die aus jeder Situation neu entflammen konnte. Ich hatte hier nichts zu sagen. Ich hatte Still zu sein, ganz unten in der Rangordnung. Wer seinen Mund nicht halten konnte oder gegen den Ranghöheren aufbegehrte, bekam das Kissen über den Kopf und wurde zum kuschen gebracht. Zum Glück hatte ich als Kleinkind schon bei Kissenschlachten mit stärkeren Kindern die Strategie entwickelt, mich ruhig zu verhalten und langsam aber stetig weiter zu atmen. Ich wusste, wie es geht.

 

           Ich entwickelte meine neue Lebensstrategie:

             „… halte den Mund,

             atme ruhig weiter,

             und leide von nun an!“

 

HEIMALLTAG OHNE AUSWEG

 Wie ein Gewitter stürzte die geforderte Tagesroutine auf mich nieder.

 Wecken; im Nachthemd über den kalten Flur zum Gemeinschaftswaschraum. Allgemeines Zähneputzen und Katzenwäsche. Ankleiden und Antreten zum gemeinschaftlichen Aufzugtransport in den Speisesaal im Parterre. Wer schon beim Stehen vor dem Aufzug aus der Reihe tanzte, hatte sein erstes, wenn auch längst nicht sein letztes „Fett“ schon weg. Anweisungen und Zurechtweisungen wurden zur selbstverständlichen Kasernenhof- Kommunikation des Alltags.

 Auf den zerkratzten Linoleumtischen warteten Marmeladenbrote mit ranziger Butter auf verbeulten Blechtellern auf uns, im Wechsel mit dem trockenzähen „Vietor-Käse“: Eine entfernte Verwandtschaft mit dem ehemaligen „Chester-Field“, welcher offenbar durch den Anstaltsleiter Pastor Vietor erbettelt wurde, nachdem der Bestand durch die Britische-Rheinarmee wohl ausgemustert worden war. So erzählte man uns und ermahnte zur Dankbarkeit und Anerkennung wegen der aufopfernden Bettelei des Anstaltsleiters für uns Rechtlosen, wenn sich der Appetit nicht einstellen konnte. Dazu ein Getreidetrunk, der Kaffee genannt wurde. Wenn wir die sattelähnlichen, vertrockneten Brotgebilde als Spielobjekte benutzten (sie wippten ja so schön auf den klappernden Blechtellern), gab es die stets verärgerten Zurechtweisungen durch die Diakonissen. 

 

SCHULE ZWISCHE FREUDE UND MARTYRIUM

 Wir verteilten uns je nach Alter und Schuljahr in die drei Klassenräume. Schlaftrunken saßen wir in dem noch kalten Klassenraum; es dauerte, bis die Heizung und unsere Körperwärme den hohen Raum erwärmt hatte. Schlaftrunken oft, saß auch Fräulein Sch. auf ihrem Lehrerpodest.

 Die Tür zum Klassenraum öffnete eine neue Welt.

 Meinen Freund Rolf Anheier, der den Tageskalender mit den Ereignissen und Jahreszahlen der Großen aus Geschichte, Weltpolitik und Wissenschaft vorlesen durfte, beneidete ich um sein Privileg. Wie gern hätte auch ich einmal in dieser Disziplin brilliert. Wer aber in der letzten Reihe sitzt und erst jetzt nach langer Krankheit wieder in der Schulbank sitzt, kann nicht mit der Zuneigung der Lehrerin rechnen. Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben; das lernte ich schon damals.

 Der Tagesauftakt mit der Verlesung von bedeutenden Jahresdaten ließ ein Gefühl von elitärem, erlesenem Bildungsniveau aufkommen. Erstmals hörte ich, nach den versäumten Jahren im Krankenhaus, von der Größe und den Heldentaten der Dichter, Denker, Forscher und was sonst noch wichtig in der Welt gewesen war. Allenthalben war hier der Ort, an dem mit Spannung Neuland zu entdecken war.

 Lernfreude und Bildungslust beseelte mein kleines Herz. Dennoch, alle waren ernst und ängstlich. Ich erinnere mich nicht, jemals ein Lächeln im Gesicht von Fräulein Sch., unserer Lehrerin, gesehen zu haben. Ob das wohl abgefärbt hat auf uns Kinder? Die beiden Zwillingsschwestern kicherten gelegentlich.

 Wenn wir auch mit dem Auswendiglernen von Gedichten, christlichen Liedern, Psalmen und religiösen Sprüchen überfordert waren, so wurden wir doch gefördert und gefordert. Frl. Sch. verspottete oder demütigte uns nicht. Sie nahm uns ernst, war engagiert und berichtete uns gelegentlich, wie sie in Hagener Büchereien nach neuer Literatur für uns gestöbert habe. Wir lasen Goethe und Schiller, kannten uns mit den vorgelesenen Erzählungen und auf der Landkarte sowie in Flora und Fauna aus. Jeden Morgen konnte es was Neues geben. Eines Tages gestatte sie mir sogar, ein Kaltwasseraquarium auf der Schulfensterbank einzurichten. Das war ein Privileg der Sonderklasse, konnte ich nun doch meine Erforschungen der frühen, glücklicheren Kindertage an Tümpeln, in Busch und Feld fortsetzen.

 Drei Schuljahre wurden jeweils gemeinsam unterrichtet. Meine mäßigen Leistungen wegen des langen Krankenhausaufenthaltes waren der Grund für den Spagat, den ich je nach Unterrichtsfach zu leisten hatte. Deutsch im fünften, Rechnen im sechsten, Geschichte im siebten Schuljahr. In Religion hatte ich den größten Nachholbedarf. So durfte ich an den Spielnachmittagen meiner Mitschüler, ich sah sie vor dem Fenster, einsam in der Klasse nachsitzen und Psalmen, Kirchenlieder oder Katechismusverse auswendig lernen. Welche Lebensängste überwältigen mich am nächsten Morgen, wenn ich das nur mäßig Gelernte aufzusagen hatte. Ich war unsicher und fahrig und verhaspelte mich vor lauter Angst. Oft gab es neben dem erneuten Festigen des unfertig Gelernten noch eine zusätzliche Strafarbeit, damit das Auswendiglernen auch nur ausgiebig genug geübt wurde.

 Manchmal hatte ich den Eindruck, dass ich durch die Ãœbersetzungstätigkeit für meinen Sprachbehinderten Mitschüler Helmut G. einen kleinen Bonus der Anerkennung bei Fräulein Sch. erringen konnte. Oder war sie einfach nur zufrieden, dass sie sich nicht die Mühe machen musste, meinem Mitschüler in der letzten Bank aufmerksam und geduldig zuzuhören?

 Geschlagen wurden wir von ihr nie. Das allein machte sie schon mal sympathisch.  

 

SCHLÄGE IM NAMEN DES HERRN

 Manfred, aus der ersten Klasse bei Fräulein St., kam des öfteren mit roten Ohren und knallroten Wangen aus dem Klassenraum und berichtete unter Tränen dass er auch heute wieder geschlagen worden sei. Auch die Mädchen zeigten ihre Finger im vorübergehen stumm zitternd mit anklagendem Blick vor. Offenbar wurde keiner der Schüler von Frau St. verschont. Die Mädchen und Manfred berichteten in heller Aufregung, dass in der ersten Klasse etwas geschehen sei. Helmut sei während der langen Zeit des Ecke-Stehens zusammengebrochen und habe sich die Knie blutig geschlagen. Jetzt könne er nicht mehr aufstehen. Er liege noch im Klassenraum.

 Mit Grausen wandten wir uns von diesem Gräuel ab und wollten damit nichts zu tun haben. Wer weiß, konnte man doch evtl. schon als Mitwisser belangt werden. Wir waren froh, verschont zu bleiben.

 Während des Katechismus-Unterrichts in der Klasse von Fräulein S. hatte mich Jochen St., er kam aus dem Dorf zu uns in den Unterricht, geschupst. Im Fall versuchte ich, mich zu halten und riss dabei das Tintenfass aus der Halterung. Meine bisherige Erziehung und die Meinung meiner Mitschüler veranlassten mich am nächsten Tag, Meldung über das Missgeschick zu machen. Ohne meine Erklärung über die Gründe abzuwarten, erhielt ich beidhändig die kräftigsten Ohrfeigen meines Lebens, die umso kräftiger und anhaltender erteilt wurden, je mehr es mir gelang, meine Tränen zu unterdrücken. Ein tiefes Gefühl der Verachtung wegen meiner Aufrichtigkeit und dass mir Unrecht widerfahren sei, festigte sich in mir. Wie sollte ich mich in meinem späteren Leben verhalten? War mir doch durch die Vorbildfigur der Lehrerin, die uns auf unser Leben vorbereiten sollte, ein deutlicher Verweis erteilt worden. Mein bisheriges Weltbild geriet ins wanken. Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit lohnten sich nicht? Was war eigentlich richtig? Ich fragte die Bibel und die Lobpreisungen in unseren täglichen Liedern, Gebeten und Gesängen!

 â€žIst der Herr wirklich mein Hirte?“

 â€žWird mir wirklich nichts mangeln?“

 â€žFührt er mich wirklich auf eine grüne Aue und zum frischen Wasser?“

 â€žIch gehe doch schon längst durch ein dunkles Tal und fürchte mich so sehr, aber er ist nicht bei mir!“ „Wo ist er?“

 â€žSein Stecken und Stab trösten mich?“ „ Aber wann?“

 â€žWo ist der gedeckte Tisch im Angesicht meiner Feinde?“

 â€žWann nimmt er mich als seinen lieben Gast in sein Haus und salbt mein müdes, verwirrtes Haupt?“

 â€žSieht so seine Güte und Gnade aus? Alle Tage?“

 â€žMuss ich wirklich für immer hier in diesem, seinem Haus wohnen?“

Der Psalm 23 wird mir für immer ins blutige Herz gebrannt bleiben!

 

Ich habe lange gezweifelt und manche bittere Lehre bezahlen müssen, bis ich den aufrechten Gang wieder mühsam erlernt habe.

   

ERKENNTNISS OHNE ANERKENNUNG

 In meiner frühen Kindheit hatte ich mit meiner Mutter oft gesungen und daher eine klare und sichere musikalische Stimme entwickelt. Das gereichte mir zu einem kleinen Vorteil, den ich mir zu bewahren wusste. Der früh einsetzende Stimmbruch bescherte mir den Vorzug, mit Rolf in die gefragte dritte Stimme eingeteilt zu werden. Die Proben für Aufführungen aus Anlass von Geburtstagen von Pastor Kalle, der Oberschwester oder zu Weihnachten, waren ein herbeigesehntes, besonderes Ereignis. Ich erinnere mich noch, als Baum, mit Sträuchern auf dem Kopf, in einem Singspiel mitgewirkt zu haben.

Bald wurden der Schule Instrumente zugeteilt. Ich erhielt eine Geige, weil ich groß genug war, diese zu halten. Jetzt hatte ich ein Spielzeug im wahrsten Sinne des Wortes. Bald entwickelte ich es zu Meisterschaft und gewann erstmals Anerkennung als Schüler bei dem doch so verhassten Fräulein St. Wenn ich auch heute die Fähigkeit, einen viertel Ton unterscheiden zu können, verloren habe, bin ich doch froh, dass mir die Geige über manche bittere Stunde hinweggeholfen hat.

 Frau St. unterrichtete auch den Werkunterricht im engen Keller des Hauses. Meine Fähigkeiten aus den frühen Jahren meiner Kindheit halfen mir, auch hier Beachtung zu erlangen. Da konnte schon mal ein Gefühl der Zufriedenheit mit mir selbst aufkommen. Und gelegentlich wich die stetige Anspannung und Angst vor der Ungewissheit. Ich konnte im nächsten Moment einer noch unberücksichtigten, unerkannten Schuld aus Religion oder Sachverhalt bezichtigt zu werden. Wenn mir dennoch gelegentlich bei meinem Eifer ein Sägeblatt zerbrach, setzte es strafende Blicke und Missachtung, die meine kleine Seele gehörig peinigten. Erklärungen über die Kosten, die ein zerbrochenes Sägeblatt verursachten, konnte ich nicht einordnen. Taschengeld und die Orientierung in den Geschäften des Dorfes waren unbekannt bzw. unmöglich.

Mittlerer Teil einer Laubsägearbeit
Rechts und links davon waren noch einmal Hirten angebracht, so dass das gesamte Bild etwa zwei mal zwei Meter hoch war. Jeden Tag wurden einige Figuren auf Grundträgern aufgesteckt. Das Gesamtbild war dann am Tage der Weihnachtsfeier fertig. Zur Vergrößerung bitte hier klicken.

Ein filigraner Vasenhalter, als Weihnachtsgeschenk für meine Mutter, war das Ergebnis meiner emsigen Schreinerarbeit, den ich für mich selbst behalten durfte.

 Das gemeinschaftliche Werk, Fensterbilder mit dem Herrn Jesus und seinen Engeln auf einer Wolke, für die Kapelle zu schaffen, machte uns stolz. War die Annahme des vollendeten Werkstückes für das große, gemeinschaftliche Fensterbild der anstaltseigenen Kapelle doch eine stillschweigende, unausgesprochene Anerkennung der vollbrachten kindlichen Leistung zu Gunsten der großen Allgemeinheit.

 Heute erkenne ich, dass auch Fräulein St. Anerkennung mit unserer Leistung erheischen konnte. Sie strahlte und wurde sehr, sehr rot, als sie vom Pastor gelobt wurde. Der Anblick „meiner“ Fensterbilder lenkte mich ab von dem Zwang der Andachtsteilnahme und zog mich mehr in die Kapelle als die monotone Predigt der Pastoren.  

Drittes Element des Altartransparentes (rechtes Fenster): Jüngstes Gericht

 DER TAG NIMMT SEINEN LAUF

 Wer nach den Schulstunden, die um 12 Uhr endeten, nicht pünktlich, also um 12 Uhr, in den Speiseraum zurückkehrte, den erwartete selbstverständlich ein gehöriger Tadel, eine Strafpredigt, eine Beschimpfung, eine Verunglimpfung. Je nachdem, welche Laune die Schwestern in ihrer Freizeit von 8 Uhr bis 12 Uhr entwickelt hatten.

 Jeder musste seinen Blechteller leer essen. Es galt das Sättigungsprinzip. Dabei konnte es schon mal passieren, dass der Hering in der Milchsuppe serviert wurde. Die Tellergerichte waren eintönig bis ungenießbar. So gab es jeden Montag die Wurstreste der vergangenen Woche mit Graupen. Mittwochs die dicken Nudeln und Möhrenstückchen neben Speckschwartenknubbeln, an denen regelmäßig die Borsten empor standen. Wer sich getraute, der steckte die Speckknubbel in die Hosentasche und ließ sie beim Freigang verschwinden oder versenkte sie in der Toilette.

 Mein Freund Jochen R. war magenkrank und erbrach die stinkende, steife Pampe in seinen Blechteller. Schwester J. füllte ihm mit Gewalt das Erbrochene in den zwangsgeöffneten Mund ein. Widerwillig stieß er sich vom Tisch ab und fiel mit seinem Stuhl rücklings auf den Boden. Diese Situation verlangte nach der Hilfe der herbeigerufenen Diakonissen des Mädchenspeisesaals. Hier bildete sich schnell ein Team. Jeweils eine Schwester kniete auf einem Arm des am Boden liegenden, gekreuzigten Jungen. Die Dritte öffnete ihm gewaltsam den Mund und Schwester Jenny flösste ihm erneut den erbrochenen Rest ein. Verängstigt sahen wir dem Geschehen zu. Wir senkten den Blick und wagten nicht, aufzubegehren, konnte uns doch gleiches Schicksal jeder Zeit ereilen. Die Macht der Schwestern war unbegrenzt. Wir waren Augenzeugen und erlebten so selbst eine Folter, ohne das Wort dafür zu kennen.

 Die guten Läufer unter uns durften gelegentlich Hilfs- und Einkaufsdienste für die Schwestern erledigen. Es bot sich somit die Möglichkeit, in den Schwesternspeisesaal zu blicken, und dabei wurde schnell entdeckt, welche leckeren Speisen für die Schwestern bereitgehalten wurden.

 So wussten wir also, dass die Schwestern ihre Speisen an festlich gedeckter Tafel, mit Porzellan auf weißen Tischtüchern oder Tischläufern einnahmen. 

 KLEINE GESCHENKE ERHALTEN DIE FREUNDSCHAFT

 Zum Geburtstag oder aus anderem Anlassen bekam ich von meiner Mutter oder Tanten gelegentlich Briefpost oder ein Geschenkpaket. Süßigkeiten und Kleidung waren wohl neben kleinem Spielzeug der Hauptbestandteil der Geschenke. Es dauerte eine Weile, bis ich herausfand, dass die Post geöffnet und kontrolliert wurde. Gutgläubig und vertrauensselig zu meiner Bezugsperson, wie ich erzogen worden war, rechnete ich nicht mit solchen Maßnahmen. Von einem Postgeheimnis hatte ich nie etwas gehört. Mit dem Argument: „… auch die anderen Kinder, die kein Paket erhalten, möchten was haben; es muss verteilt werden!“ – schrumpfte der Inhalt meiner Gaben auf ein Minimum. Auch der Hinweis: - „… du sollst nicht alles auf einmal essen! Wir verwahren es für dich.“ führte oft zum Totalverlust. Wenn ich nach einiger Zeit nachfragte ob ich von meinen Süßigkeiten, die in einem verschlossenen Schrank auf dem Flur verwahrt wurden, noch etwas haben dürfte; bekam ich oft die Antwort: - „… das ist längst verteilt und die armen Kinder in der DDR sollen doch auch etwas bekommen!“ Die Hinweise der etwas einfältigen Fräulein Schr.: - „… oh, du hast aber gute, leckere Sachen bekommen!“ nährten eine dunkle Ahnung über den Verbleib meiner Zuteilungen.

 Bei einem Heimaturlaub in den Schulferien erhielt ich einen Baukasten zu Herstellung eines Detektor-Radios. Mit diesem Einführungswerk in die Ursprünge der Elektrotechnik konnte ich nach erfolgter Konstruktion, ohne weitere Energiequelle, Radiosendungen meist nur während der empfangsstarken Abendstunden hören. So muss ich bei leiser Musik aus den Kopfhörern wohl eingeschlafen sein. Jäh weckte mich die zornige Stimme von Fräulein Schr.: „… hab ich dich doch erwischt, jetzt ist Schluss damit!“ Und mein geliebter Radioempfänger war mir entrissen. Als ich nach langer Zeit immer wieder die Rückgabe erbettelte, fehlte der unabdingbare Germaniumkristall. Nach anfänglichem Lob über den guten Empfang äußerte Schwester Jenny nun, nichts über den Verbleib zu wissen. An Aufbegehren war natürlich nicht zu denken. Hatte ich mir doch den Verlust selbst zuzuschreiben?! Nun war meine Kariere als Radiotechniker beendet. Den Verlust von neuer Kleidung konnte ich verschmerzen. Live-Stil war damals noch nicht gefragt.

 

FREIGANG

 Das besondere Ereignis an jedem Mittwoch war der Freigang auf dem Hinterhof zwischen Leichenhalle und Dorffriedhof. Hier spürten wir, zwischen den Leichen, die Wärme der Sonne.

 Auch draußen gab es kein Spielzeug, wir hatten nur uns selbst. So schoben wir unsere Mitbetroffenen in deren Rollstühlen hin und her. Es konnte uns helfen, die Illusionen aus der Vergangenheit zu bewahren, als wir noch mit Roller und Spielauto tun und lassen konnten, was wir wollten. Jeden Moment konnten uns die Schwestern zur Unterlassung ermahnen. Wenn die Schwestern keine Lust hatten, nach draußen zu gehen, weil es ihnen zu kalt oder zu warm war, fiel der Freigang für uns aus.

 Die Spielgeräte, wie sie auf Bildern heute so gerne vorgeführt werden, gab es zu meiner Zeit noch nicht.

 

RELIKTE HALTEN DIE ERINNERUNG WACH, HOSPITALISMUS

 Die Nachmittage fristeten wir regelmäßig in Langeweile und einem stumpfen Dahindösen.

 Wenn wir nicht an den nachmittäglichen Sonderveranstaltungen der Schule wie Singen, Musizieren oder Werkunterricht teilnahmen, saßen wir an den Esstischen mit den Gravuren unserer Vorgänger. Irgendwelche Phantasiegeschichten machten die Runde oder wir spielten mit den eigenen Fingern. Es gab kein Spielzeug, keine Bücher, keine Abwechslung. Einige fuhren mit ihren Rollstühlen und Laufrädern umher. Wer einen Bindfaden ergattert hatte, konnte mit Freunden Fingerfadenspiele entwickeln. Wenn ich im hohen Mannesalter meine Mutter besuchte, sagte sie oftmals: „Lass die Knibbelei an den Händen und Fingernägeln“. Ich habe das dann meist mit dem Gedanken ignoriert, dass Mütter ja immer an ihren Söhnen herummäkeln und verbessern müssen.

 Nie habe ich darüber nachgedacht, wieso ich das mache und welche Ursache das haben könnte. Heute habe ich den Grund für mein zwanghaftes Handeln erkannt.

 Eine ehemals kurze Bekanntschaft wurde jäh beendet, als die Umworbene während einer emotionsgeladenen Denkpause auf meine Finger starrte und erschrocken, aber bestimmt ihren Kopf fast unmerklich schüttelte. Ich beobachtete ihr Verhalten. Möglicherweise hatte sie während ihrer eigenen Sozialisation ein ähnliches Erlebnis und den knibbelnden Kandidaten aus anderen Gründen aus ihrer Favoritenliste gestrichen. Nun verband sie mein Knibbeln mit ihren ehemaligen Erfahrungen und assoziierte dessen negative Fakten. Ich war die heiße Kartoffel, die sie fallen ließ.

 In der Reflektion über dieses Ereignis erkannte ich die Spuren in der Vergangenheit. Der Körper vergisst nichts.

 Während der langweiligen Nachmittage an den Tischen im Speisesaal war ich ebenfalls emotional gebunden in freudvolle und aktive Erinnerungen an mein früheres Leben zu Hause. Die Isolation von jeglichem Spielzeug und Beschäftigung, gefangen in mir selbst, hatte diese Form des Hospitalismus bei mir verursacht.

 http://www.psychologische-praxis.rielaender.de/Literatur/Hospitalismus.pdf 

 

RECHT HAT, WER DIE MACHT HAT

 In den letzten Tagen meines Heimlebens hatte wohl der Vater eines Mitschülers eine gut gemeinte Idee. Er stellte eine Holzplatte mit Straßenführungen für Spielautos zur Verfügung. Jedoch, wir hatten keine Autos. Der beglückte Junge hatte zwar Autos, aber jeweils auch um Spielerlaubnis zu fragen. Just mit dem Erhalt von diesem großzügigen, von den Schwestern missbilligten Geschenk ergab es sich, dass er in ungeahntem Ausmaß allerlei Untaten bezichtigt wurde. So durfte er fast nie mit seinem Eigentum spielen. Als er eines Nachmittags zur Strafe reglos neben seiner Anlage in seiner Ecke stand, trat Fräulein Schr., die Hilfsschwester, in den Raum. Als sie die Tür mit wuchtiger Erschütterung ins Schloss hinter sich fallen lies, glitt die Holzplatte hinter dem Rücken von Tobias mit lautem Knall zu Boden. Außer mir hatte keiner die Szene gesehen, weil sie sich jeweils hinter deren Rücken ereignete. Fräulein Schr. flippte ob der jetzt ja „erwiesenen, abgrundtiefen Bosheit des Tobias“ aus. Ihre Hände ließ sie mit lautem Gebrüll und geifernd vor Wut auf Gesicht und Rücken des weinenden, Unschuld beteuernden Jungen tanzen.

 Als Zeuge seiner Unschuld geriet ich auch in ihre Wuttiraden, weil ich versuchte, ihn ins rechte Licht zu rücken. Ohne großes Nachdenken sprang mir das Missverhältnis zwischen vorbildhafter, gepredigter und gelebter, praktischer Gottesfurcht ins Gesicht. Mit dem von uns geforderten Nachleben brach ich nun jäh, wenn auch nur insgeheim, wegen der gefürchteten Verfolgung bis zum Jüngsten Tag. Mit Rolf Anheier wollte ich eine neue Sekte gründen, die sich auf indianische und kommunistische Werte gründen sollte. Ein unumstößliches Rechtsempfinden entwickelte ich seither. Das ist mir bisher erhalten geblieben, wenn ich mir auch nicht immer Freunde damit eingehandelt habe. Seit meiner Volljährigkeit bin ich aus der Kirche ausgetreten. Heute nähere ich mich der buddhistischen Weltanschauung.  

 

ISOLATION UND DUNKELHAFT WAREN DER ALLTAG

 Wer wagte es noch, die Zeit vom Schulschluss um 12.00 Uhr bis zum Beginn des Mittagessens, ebenfalls um 12.00 Uhr, auf dem drei Meter breiten Flur zu vertrödeln. Nein, die Möglichkeit, bei diesen drei Schritten einmal mit einem Mädchen zu sprechen, bot sich nicht. Auch ihnen war das Sprechverbot auferlegt worden und auch sie hatten Angst vor Bestrafung oder Missbilligung durch die Schwestern. Selbst beim seltenen Freigang auf dem Hinterhof waren das blitzende Auge und die scharfe Zunge der Schwestern allgegenwärtig.

 Pünktlich um 17.00 Uhr wurde das Abendessen eingenommen. Gelegentlich prosteten wir uns heimlich mit unseren Blechtassen zu. Die Eintönigkeit des Essens war mir nicht stets bewusst, aber an unseren rohen Tischen träumten wir von Speisen, die wir aus Erzählungen oder aus unserem früheren Leben kannten.

 Die „Einpacker“ (Kinder mit behinderungsbedingter Inkontinenz wurden lauthals von den Schwestern so genannt) kamen sofort hoch aufs Schlafzimmer. Ein Glück jenem, der dem Strafgericht der Schwestern entgangen war. Ängstlich schlichen wir uns an dem unbeleuchteten Abstellraum gegenüber dem Waschraum vorbei, in dem oft Klaus hilflos abgestellt war. Er war nicht der einzige, der an Hospitalismus litt. Hatte er wieder im Schlaf mit dem Kopf gewackelt oder nachts das Bett nass gemacht? Oft schon beim Frühstück wurde er vor den anderen Kindern verspottet. Lieber nicht fragen, lieber nichts wissen, wie leicht könnte sich daraus eine Schuld oder Mitschuld ergeben; das würde ja zwangsläufig eine Strafe oder eine Strafpredigt zur Folge haben. Die Lehrerinnen züchtigten ganz selbstverständlich und offen täglich mit Schlägen, voran Fräulein St. Die Methode der Schwestern war diffiziler, sie erzeugten psychischen Druck, dem wir Kindern nicht ausweichen und nicht standhalten konnten. Offenbar hatte die mannhafte Gegenwehr von Bernd, dem muskelbepackten Großmaul, seinerzeit ihre Schlagkraft entkräftet und eine viel effizientere, für uns Kinder jedoch schmerzhaftere Form der Züchtigung herbeigeführt.

 

UNTER WEISSEN SEGELN AUFS WELTENMEER

 Auch wir hatten nach dem Zähneputzen um 18.00 Uhr in den Betten zu liegen. Pünktlich ging dann das Licht aus und der Tag war zu Ende. An den sommerhellen Abenden, oft war es noch bis 23.00 Uhr hell, hatten wir im „Großen Zimmer“ den Blick auf den nahen Harkortsee über das Dach des Hauses, in dem Pastor V. und Dr. X. wohnten. Während dieser Zeit saß ich mit meinem Freund Rolf Anhaier oft verbotener Weise am Fenster des Schlafsaales und wir träumten von verwegenen Abenteuern. In der Ferne glänzte der Harkortsee. Die kleinen Ruderboote regten uns zu Träumen über Flucht und Freiheit an. Ich erträumte mir die Fahrt in einem Nachen. Ein Diebstahl würde hoffentlich unentdeckt bleiben. Er würde mich die Ruhr hinuntertragen und über den Rhein in eine große Hafenstadt bringen. Dort würde ich mich als blinder Passagier unter der Persenning eines Rettungsbootes verstecken. Nachdem wir den Hafen verlassen hätten und Richtung Amerika, Afrika oder Indien unterwegs wären, hätte ich mich dem Kapitän als Bootsjunge vorgestellt und wäre sicher dann als tüchtiger Seemann auf den Weltmeeren zu Hause. Unserem jetzigen Schicksal wären wir mit Freuden entronnen und sähen glorreichen Abenteuern entgegen. Tom Sawyer und Huckleberry Finn waren damals unsere Vorbilder. 

 

DAS HUSARENSTÃœCK

 Eines Tages durfte Rolf Anhaier vom „Kleinen-Zimmer“ ins „Große-Zimmer“ umziehen. War es die gute Führung oder das Jahr, um welches er älter geworden war? Egal, wir waren endlich Bett an Bett und konnten uns bis in die Nachtstunden unterhalten. Wir waren seit langem die Ältesten in der Klasse und unzertrennliche Freunde. Wir schmiedeten Pläne und tauschten unsere Empfindungen und Erfahrungen über alles aus, was so ein Jungenherz in der Pubertät bewegt.

 Hannelore war die Auserwählte von Rolf. Mich hatten die Tränen von Gertrud gerührt, als ich sie engelsgleich im Windfang des Hofeingangs entdeckte. Steif und kein Wort redend stand sie vor mir. Ich ahnte damals nicht, was mit ihr geschehen war. Erst heute hat sie mir gestanden, wie sie aus dem allgemeinen, öffentlichen, gesellschaftlichen Leben eines jungen Mädchens mit Elvis-Träumen in die Zwangssituation dieser isolierten Kinderverwahrstätte gesteckt worden war.

 Damals wollten wir das Sprechverbot mit den Mädchen überwinden und so beschlossen wir, in der Nacht heimlich auf die Mädchenstation zu schleichen. Rolf hatte schon den ungefähren Weg auskundschaftet. Mit den quietschenden und klappernden Gelenken unserer Beinorthesen hätten wir zu viel Lärm gemacht. So lief ich auf nackten Füßen und Rolf lief auf den Händen im Handstand (der geneigte Leser hat sicherlich den Handstand-Lauf des Teilnehmers der letzten Olympiade beobachtet). Mit einem Schlag waren alle Mädchen hellwach und kicherten und tuschelten. In der Dunkelheit war es nicht so leicht, die Auserwählte im Mädchensaal zu finden. Auf der Bettkante blieb uns vor Aufregung und Verlegenheit bei der körperlichen Nähe das Wort im Halse stecken. Alles war geplant, nur was wir sagen wollten hatten wir uns nicht überlegt. Das Herz klopfte bis zum Halse und der Rückweg an den Schwesterzimmern entlang lag noch vor uns. Das Meisterstück war uns geglückt. Am nächsten Morgen blieben uns noch Sekunden, um zu hören, dass die Schwester der Mädchen zwar Geräusche gehört habe, jedoch mit dem Hinweis auf den Gang zur Toilette eines unbeholfenen Mädchens beruhigt worden war. Der Kelch war an uns vorüber gegangen. 

 

FLUCHT VON ROLF ANHEIER UND AXEL HAGER

 Mit diesen Träumereien im Kopf entwickelte sich in uns ein Fluchtplan, den ich mit Rolf schmiedete und ausschmückte. An einem Regenabend, es darf schon November gewesen sein, schritten wir zur Tat. Ein Bündel wurde geschnürt und leise kleideten wir uns an. Bei dieser Gelegenheit erkannte ich die Tragweite und Gefahr unserer verbotenen Flucht,  - ich kniff. Behände sprang Axel Hager an meiner Stelle ein und in traumwandlerischer, zwanghafter Dynamik gelang es ihnen, unbemerkt das große Haus zu verlassen. Nach kurzer Zeit plagten mich Gewissensbisse, dass ich sie ohne Verpflegung und Regenschutz hatte gehen lassen. Am nächsten Morgen, nach der entdeckten Flucht, drohte mir bestimmt die rohe Gewalt der Schwestern. Mit Zögern und wankendem Mut schlich ich noch am Abend zum Zimmer von Schwester Jenny und verpfiff meine Freunde. Die Angst vor den Schwestern und dem strafenden Arzt wechselte mit der Furcht vor der Missachtung meiner Freunde und dem Verlust ihrer Freundschaft.

 Noch am gleichen Abend brachte die Polizei, kaum zwei Stunden später, Rolf und Axel müde und durchnässt bis auf die Haut wieder ins Haus. Die Strafversetzung zurück ins ungeliebte Zimmer der Kleinen war für Rolf wegen seines schon ellenlangen Strafregisters schon ausgesprochen und drückte stärker auf unsere Moral, als die verunglückte Flucht in die Freiheit. 

 

DEM TOD INS AUGE GEBLICKT

 Diese und noch weitere, ähnlich frustrierende Erlebnisse mögen unsere Stimmung und Gedanken in eine melancholische und depressive Richtung geführt haben. So sprachen wir an den langen Abenden oft darüber, was wäre wenn, was wir täten wenn wir könnten, was geschähe, wenn wir nur wollten, oder warum alles so traurig ist, wie es ist. Besonders Gustav und Axel Hager steigerten sich in Gedanken um den Tod hinein. Bei Axel gipfelte es darin, dass er sich eines Abends in sein Bett stellte und an der Zimmerdecke mit der Hand an dem Heizungsrohr herumfummelte. Er demonstrierte, welchen Knoten er knüpfen würde. Es war natürlich der Henkerknoten. Zum Glück war Gustav viel zu faul, um im Bett zu stehen und sich einen Knoten zu binden. Er hätte sich bestenfalls einen Knoten binden lassen und mit dem reichlich vorhandenen Taschengeld seines Vaters bezahlt. Als gutbetuchter Gastwirt steckte dieser ihm, und eventuell auch den Schwestern, sicherlich ein gutes Salär zu. Dem Gustav wurde jedenfalls auf wundersame Weise nie ein Härchen gekrümmt oder ein missbilligendes Wort gesagt.

 Mich beschlich die Angst um den Tod und den Verlust des lieben Freundes. Mit Fleiß, aber noch ohne Können, redete ich ihm den Suizidversuch aus. Oder verließen ihn der Mut und der Schneid, den er stets zeigte? Zu unserem Glück erfuhren die Schwestern nie von diesem Ereignis, erlösen mussten wir uns selbst. 

 

DER RICHTER IN WEISS; Visite Dr. X.

 War es jede Woche oder jeden Monat, dass die Visite vom kleinwüchsigen Oberarzt Dr. X. anstand? Er war die strafende Vatergestalt, mit der die Schwestern uns stets drohten und der bei herannahendem Termin zum Goliat mit flammendem Schwert heranwuchs.

 Der Speisesaal wurde zum Richtplatz. Der Richter in Weiß, flankiert von den Schwestern, hörte sich die Untaten eines jeden von uns an.

 Welcher Tat wurde ich bezichtigt? Einen beliebten Zeitvertreib nachahmend hatte auch ich eines Tages meinem Tischnachbarn den Stuhl unter dem Hintern hinweg gezogen, als er sich zur Mittagszeit hinsetzen wollte. Natürlich hatte er sich verletzt und mörderisch geschrieen. Dies trugen die Schwestern nun triumphierend vor.

 Mit böser Miene wurde ich vor den Richter zitiert. Nach bangem Schweigen wurde mein Urteil gefällt. Mit meinem eigenen Krückstock wurde mir der Hintern so lange versohlt, bis der Gummistopfen am unteren Ende des Stockes sich durch die Wucht löste. Jetzt ließ er von mir ab und von nun an hatten die Schwestern bei jeder Gelegenheit das probate Druckmittel, um mich stets nach ihrem Willen gefügig zu lenken.

 Die Liebe eines Vaters nach einer rechten Tracht Prügel wurde uns leider nicht zuteil.

 Mit der Zeit entstand ein Druck der Ungewissheit. Allein durch die maßgebliche Aussage der Schwestern, eine Untat begangen zu haben, stellten sich bei mir und meinen Mitschülern Unsicherheit und Angst ein. Beim Herannahen oder bloßer Beobachtung durch unsere Aufsicht, von der Putzfrau über die Schwestern und Lehrerinnen bis zum Pastor, änderten sich abrupt unser Verhalten und somit langfristig auch zumindest meine psychische Verfassung. 

 

MITLEID UND ANTEILNAHME KANNTEN WIR NICHT, ES WURDE NICHT GELIEBT

 In unserer Lebenssituation war lediglich die Grundversorgung sicher gestellt. Für unsere Wünsche nach Spielzeug, Anteilnahme und Lebensfreude gab es keinen Raum.

 War es die Lebenssituation, die die Schwestern ja mit uns teilen mussten, oder waren es möglicherweise die schlimmen Erfahrungen, welche sie auf ihrer Flucht aus Ostpreußen gemacht hatten, die sie so gefühlskalt machten? Wir waren das Objekt ihrer ungeliebten Tätigkeit. Mit Bitterkeit erkenne ich heute, wie uns allen ein Quäntchen Mitleid, Liebe und Anerkennung von den Schwestern gefehlt hat.

 Mitleid ist selbst bei Tieren ein gängiges und selbstverständliches Verhalten.

 (In einer Fernsehsendung bei Arte, am 19.08.06, 20.00 Uhr: „Kunst und Mythos“, wurde ausführlich darüber berichtet, wie in der Mongolei Kamelstuten dazu bewegt werden, neben ihrem eigenen auch verwaiste Fohlen trinken zu lassen. Geübte Frauen oder Spieler der Pferdegeige gingen nahe an die Stute heran und sangen bzw. spielten getragene Weisen in immerwährendem Gleichklang. In frappierender Dokumentation wurde dargestellt, wie aus beiden Augen einer Stute Tränen flossen und ein verwaistes Fohlen an der mitleidsvollen Stute trinken durfte.)

 Wenn Vorbilder für Erkenntnisse und Lernerfolge wichtig sind, dann hatten wir keine oder die falschen Vorbilder. Gute Freunde, die meine Sozialisation kennen, sagen mir gelegentlich: „Ja, du bist hart, weil du die Härte im Kampf ums Ãœberleben im Heim brauchtest.“ Mit einem stummen Nicken stimme ich ihnen jetzt in ihrer Bemerkung zu. Auch ich muss mich dieser bitteren Erkenntnis anschließen. Mehr und mehr erkenne ich Verhaltensweisen, mit denen ich bei meinen Zeitgenossen auf Unverständnis, Unwillen oder Ablehnung stoße. Nur allmählich finde ich seit einigen Jahren den Zugang zu den Wurzeln meiner Andersartigkeit.  

 

KONZENTRATIONSSCHWÄCHE

OBERFLÄCHLICHKEIT

FLATTERHAFTIGKEIT

UNZUFRIEDENHEIT

UNSICHERHEIT

 

Die häufigen Aufforderungen zu diesem oder jenem, die Ermahnungen in diese oder jene Richtung, führten bei mir zu zunehmender Unsicherheit. Heute so, morgen so. Eine einmal eingeschlagene Richtung in Denken und Handeln wurde stets at absurdum geführt. Nie wurde meine Handlung gebilligt, anerkannt oder gar bewundert. Stets wurde ich niedergemacht, verhöhnt, belächelt. Eigene Entscheidungen galten nichts.

 Konzentrationsschwäche, Oberflächlichkeit in der Ausübung von Handgriffen, Flatterhaftigkeit bei Anspannung wurden die Mängel, die ich selbst erkannte. Ich war unzufrieden mit mir.

 Wenn ich heute mit 65 Jahren auf meine Entwicklung zurückschaue, muss ich mit Bitterkeit und Bedauern erkennen, dass mir viele Erkenntnisse und Fähigkeiten erst sehr spät, wenn überhaupt, zuteil geworden sind. Als alter Mann mit 50 Jahren begann ich erst allmählich mit dem nötigen Selbstbewusstsein ohne innere Angst zu leben. Ich erlernte die Kraft des positiven Denkens. Jahrzehnte meines früheren Erwachsenenlebens plagte mich die Demut vor Vorgesetzten oder der Obrigkeit. Die gelegentliche Aufmüpfigkeit gegen erlittenes Unrecht konnte ich nicht einordnen und in geordnete Bahnen der Entschuldigung oder in die Erlangung meines guten Rechts einmünden lassen. Meine Entscheidungen wurden durch die erzwungenen Verhaltensweisen in jener Kindheit bestimmt. Ach hätte ich doch die richtigen Verhaltensweisen erlernt.  

 

VERLORENE, NEIN GESTOHLENE JAHRE DER KINDHEIT 

 Eine Wiedergutmachung ist heute, nach so langer Zeit, wohl kaum möglich. Die von der ESV angebotene psychologische Beratung ist in meinem Fall bestimmt angezeigt. Meine Therapie würde sicherlich Jahre dauern. Wäre ich dann noch ich selbst? Ist mir noch zu helfen?

 Die erlitten Schäden aufzuzeigen, aufzulisten und richtig zu benennen, ist mir in dem vorliegenden Bericht schon nicht gelungen. Ein Großteil der Schäden ist keineswegs mehr zu Beheben. Ich muss damit leben. So weis ich, dass bei der Korrektur meines X-Beins das Ergebnis ein O-Bein ist. Das Risiko einer erneuten Operation würde ich selbstverständlich nicht mehr eingehen.

 Anlass für die hier vorgelegte Auseinandersetzung mit meiner Vergangenheit ist das Ärgernis über die anhaltende Verweigerung einer Entschuldigung der ESV als Nachfolgeorganisation der Ehemaligen Orthopädischen Anstalten bzw. Krüppelanstalten, wie die ursprünglichen Bezeichnungen lauteten. Eine Anerkennung und öffentliche Entschuldigung für die erlitten Schmach, Ehrbeschneidung, körperliche Züchtigung. Anerkennung und Entschuldigung für die nicht kindgerechte und nicht behindertengerechte Unterbringung, Versorgung, Beschulung, Beaufsichtigung, Förderung durch unfähiges unausgebildetes Personal. Anerkennung und Entschuldigung für unberechtigte und unaufrichtige Indoktrination mit religiösen und gesellschaftsfremden Geistesinhalten und verklemmter Sexualmoral. Noch immer werden die Gräueltaten wie Isolationshaft, Zwangsernährung, Folter in den verschiedensten Formen und Mängel an allen Fronten einer regulären Betreuung von behinderten Kindern mit dem Zeitgeist der Nachkriegsjahre und der damit verbundenen Mangelsituation abgetan. Der Kirchenneubau jener Zeit offenbart die tatsächliche Finanzsituation und stellt die Behauptung über eine damals arme und schwierige Zeit ad absurdum.

 Die heutige Nachfolgeorganisation ESV ist offensichtlich nicht in der Lage, die Selbsthilfebemühungen der ehemaligen Betroffenen wirkungsvoll und bedarfsorientiert  zu unterstützen und sitzt die Auskunftspflicht gemäß SGB VII § 67, SGB X § 83 aus. Mit Einladungen zum Kaffeenachmittag versucht sie, den Erfordernissen genüge zu tun. Ihre Einlassungen und Handlungen gehen nur so weit, wie sie dazu gedrängt wird. 

 

Frankfurt im August 2007

 © Copyright, August 07 by Horst Moretto, Frankfurt

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