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Und dann muß ich noch sagen: Mittags hatten wir Mittagsruhe. Das hieß nicht, ins Bett, sondern da mußtest du still und stumm auf dem Stuhl sitzen - in der Schulklasse bis drei Uhr -, durftest keinen Ton sagen. Wenn du dann was gesagt hast, hat das sofort Ärger gegeben.

Fotos au J. Album “Unser Kind” - siehe auch “Widmung” - hier klicken

Das Interview mit J. führte Helmut

J., 20.12.1950 geboren, in die Anstalt gekommen wegen doppelseitiger Lungenentzündung, zu viele Penicillinspritzen bekommen. Man mußte den linken Unterschenkel und den linken Oberarm amputieren. Und dann bin ich in die Anstalt gekommen.

Wann kamst du ins Krankenhaus?

Das weiß ich nicht mehr. Kann ich nicht sagen. 1953 bin ich in die Anstalt gekommen.

Du kamst also in die Anstalt, weil du eine Penicillinunverträglichkeit hattest?

Ja.

Und aufgrund dieser Penicillinunverträglichkeit haben sie dir den linken Oberarm und den linken Unterschenkel amputiert?

Ja.

Dann kamst du danach …

Erst mal in die Klinik und dann in die Anstalt. Frag mich nicht, wann.

In der Klinik hat aber diese Amputation stattgefunden.

Das weiß ich nicht; das glaube ich nicht. Es kann sein. Das weiß ich nicht. Da fragst du mich zu viel.

Die Amputation kann also auch in Hagen stattgefunden haben.

Das weiß ich wirklich nicht. Es kann auch sein in der Klinik. Das kann ich nicht sagen. Darüber habe ich keine Unterlagen.

Wann etwa kamst du dann …?

53 kam ich in die Anstalt. Ich war erst mal vorübergehend in der Klinik. Ich schätze mal, mit vier Jahren oder so kam ich in die Anstalt. Das schätze ich; das möchte ich betonen.

Wo beginnt dein Erinnerungsvermögen?

Von Daten habe ich nie eine Ahnung gehabt. Ich weiß nur, daß ich 53 in die Anstalten kam.

Aber mit welcher Person verbindest du dein erstes Erinnerungsvermögen?

Damals gab es eine Schwester W. oben in der Klinik, die auch einen Arm ab hatte. Die hatte eine Armprothese. Die hat zu der Zeit nicht nur mich, sondern auch andere versorgt. Das war ja ein richtiges Bettenlager. Das war ein ziemlich großer Raum mit sehr vielen Betten.

Aber an diese Person hast du angenehme Erinnerungen.

Bei der Klinik kann ich mich nicht an Schlimmes erinnern. Das war ja erst in der Anstalt.

Mit welcher Person verbindest du deine ersten Erinnerungen dort (JHH)?

Das war zunächst Schwester A.

Wer war Schwester A.?

Schwester A. K., eine Diakonisse aus Breslau. Oder woher kam die noch?

Die gehörte wahrscheinlich zu der Truppe, wie die anderen auch, zu den Königsbergern.

Bei Tante Hannchen kann ich dir nicht sagen, wozu die gehörte. Die hatte auch eine ganz andere Tracht.

Diese Dame, die du Tante Hannchen nennst, gehörte auch zu irgendeiner Schwesterngruppe?

Gehe ich mal von aus. Weiß ich nicht, keine Ahnung.

Die hatte auch eine Schwesterntracht gehabt?

Ja.

Erzähl doch einfach mal deine schönen Erinnerungen aus der Zeit, als du mit Schwester …

Schön waren eigentlich nur Weihnachten und Ostern, sonst nichts.

Sonst war nichts schön?

Was soll ich dazu sagen? Als Kind hat man ja nun seine Empfindungen.

Hast du zu Weihnachten Geschenke gekriegt?

Ja, genau wie du auch. Wir haben Spenden gekriegt: ein Auto, an dem ein Rad fehlte. Ich hatte einen hellblauen Hund; da fehlte ein Ohr usw. Erst später durften wir uns was wünschen. Mit elf Jahren; vorher gab es auch kein Taschengeld.

Und diese Geschenke durftest du behalten?

Ja. Aber die Geschenke zum Beispiel von der Tante nicht. Ich hatte ja wirklich das schönste Spielzeug von allen. Die kamen aus der DDR. Die waren ja berühmt dafür, Spielzeuge herzustellen. Da waren so Sachen bei wie ein Affe, den du aufziehst - das gibt es ja heute auch noch -, oder kleine Karussells usw. Nur: Das habe ich immer wieder weggenommen gekriegt. Und es wurde nur ausgepackt, wenn wir diese sogenannten „Affenshows“ hatten. Sobald die weg waren, wurde es wieder eingepackt.

Was verstehst du unter „Affenshow“?

„Affenshows“ - das waren diese Besichtigungen. Das war ein allgemeiner Begriff für Besichtigungen, wenn die Leute auf die Kinderstation kamen.

Und du denkst auch an die, die an den Weihnachtsfeiern teilgenommen haben?

Nein. Bei uns waren keine Fremden bei der Weihnachtsfeier. Das waren nur die Kinder und die Schwestern. Mehr war da nicht. Da waren keine fremden Leute, nie.

Die Geschenke aus den Spenden konntest du behalten?

Ja. Das war allerdings damals nur ein dunkelblaues Auto aus Holz. Auf dem Weihnachtsmarkt sieht man solche Autos noch. Nur, die sind nicht eingefärbt. Und dann weiß ich noch: ein hellblauer Terrier. Das war ja nicht viel. An andere Geschenke kann ich mich nicht erinnern. Das war ja erst später, daß wir uns was wünschen durften. Da kann ich mich noch an einen Leuchtzwerg erinnern, den ich mir gewünscht habe, dann ein Auto mit Fernbedienung. Aber das war nicht so eine Fernbedienung wie heute; das war mit Draht. Da mußte man vorne an einem kleinen Rädchen drehen und dabei laufen.

Warum wurde dir denn das Spielzeug, das du von deiner leiblichen Tante oder von deiner familiären Tante bekommen hast, abgenommen?

Ich gehe davon aus, daß wir die Sachen nicht kaputt machen sollten.

Hast du die denn irgendwann zurückgekriegt?

Nein. Die hat man nur gekriegt, wenn Herr K. … Der hat ja immer diese Affenshows gemacht, ab und zu Vietor (Sohn des Anstaltsleiters vor Kalle) auch. Aber meistens war es der Herr K.. Aber das war ja nicht nur bei uns, das war ja in allen Häusern, da wurden diese sogenannten Affenshows abgezogen, unter anderem auch in den Werkstätten.

Was war sonst noch schön an den Weihnachtsfeiern, die du bei der Schwester …?

Wie soll ich das erklären? Wenn du als Kind irgend etwas vorgegaukelt kriegst, findest du das schön. Wenn es schlecht ist, ist es schlecht. So ist das. Heute wird Kindern nicht mehr Böses über den Nikolaus eingeflößt, wie das früher der Fall war, sondern nur Gutes. Über die Weihnachtsfeiern kann ich dir sonst Großartiges nicht sagen. Das war eben schön, fertig. Dann haben sie uns auch mal mit einem Nylonstrumpf was vorgegaukelt. Ich habe erst später gewußt, daß das ein Strumpf war. Da haben sie oben vom Boden einen Strumpf heruntergelassen: „Guckt mal, da ist das Christkind.“ Wir kriegten gleich leuchtende glasige Augen.

Und warum wurde dir mit dem Nikolaus so Böses vorgespielt?

Wenn man böse war. Wir waren nun mal böse. Wir durften ja noch nicht mal doof zeigen, da kriegten wir eins in die Fresse. Und wären wir zu den Schwestern böse gewesen, hätten sie uns totgeschlagen.

Von wem hast du eins in die Fresse …

Von den Schwestern, wenn wir untereinander ein "Vögelchen" zeigten - „Du bist doof“ -, dann ging’s gleich zur Sache.

War das auch schon auf der Kleinkinderstation?

Davon spreche ich ja.

Wir unterhalten uns die ganze Zeit über die Kleinkinderstation?

Ja genau.

Wenn du dann zu einem anderen einen Vogel gezeigt hast …

Ein "Vögelchen" zeigte, dann gab es gleich was um die Ohren. Nicht immer, aber meistens. Die waren sehr streng. Und dann muß ich noch sagen: Mittags hatten wir Mittagsruhe. Das hieß nicht, ins Bett, sondern da mußtest du still und stumm auf dem Stuhl sitzen - in der Schulklasse bis drei Uhr -, durftest keinen Ton sagen. Wenn du dann was gesagt hast, hat das sofort Ärger gegeben.

Das einzige, was im Jahr mal gut war, war, daß wir mal auf den Hof durften, das aber immer nur in Begleitung. Es kam in der Zeit, glaube ich, höchstens dreimal vor, daß wir weiter als bis zum „Puddingplatz“ - das ist die Wiese zwischen Franz-Arndt-Haus und dem damaligen Margaretenhaus … Da durften wir ab und zu, aber auch nicht alleine, auch immer in Begleitung … Und die unangenehme Seite war natürlich der Gestank unten vom Franz-Arndt-Haus; das habe ich dir ja erzählt. Ich habe ab und zu den Glauben gehabt, daß es auch Leichengestank war, weil unten im Wintergarten immer die Särge standen. Das konntest du oben vom Gatter aus sehen. Ob der Gestank von Leichen kam, weiß ich nicht. Keine Ahnung, kann ich nicht beurteilen. Jedenfalls hat es da oft genug gestunken bis oben hin zum Gatter. Es war ekelerregend. Das war immer so unangenehm für mich, da langzulaufen. Aber wenn wir was machen sollten, mußten wir das machen; da war das kein „sollen“, da war das ein Muß. In der Zeit waren wir ein oder zwei Mal bis zum „Schwarzen Weg“. Das war natürlich auch sehr schön. Aber mehr war da nicht.

Durftest du denn unter Schwester A. auch raus?

Nicht alleine. Ich war einmal im Sandkasten alleine. Da hatte ich meine Finger im Sandkasten und denke: Was kommt denn da für eine Hand raus? Da hatte ich mit einem Spaten mir selber auf die Pfote gehauen. Da hätte man schon wieder sagen können: Den darfst du keine Minute aus den Augen lassen; der macht nur Blödsinn. - Aber davon abgesehen: Bei uns durftest du keinen Blödsinn machen. Abgesehen von der Sache mit den Luftballons. Wir hatten keine Tapeten. Das war alles gelackt bis zur Hälfte. Da konnten sie die Wände abputzen, wenn wir sie dreckig machten. Und alles darüber war eine Art Kalk. Da haben wir mal Luftballons geschenkt gekriegt. Die haben wir mit Wasser gefüllt und dann unter die Decke damit. Da gab es auch Ohrfeigen ohne Ende.

Und was noch war: Durch meinen Hospitalismus habe ich oft im Bett gewackelt. Wenn die Schwestern das gesehen haben, haben die so fest vor die Scheibe gekloppt, daß man vor Schreck fast aus dem Bett fiel. Man konnte froh sein, wenn die nicht ins Zimmer kamen und einem eins auf die Fresse hauten.

Damit einer, der die ganze Geschichte überhaupt nicht kennt, eine Vorstellung hat, wie das auf der Kleinkinderstation ausgesehen hat: Du hast eben erzählt, daß da eine Scheibe war.

Eine kleine Luke war das.

Im Grunde genommen habt ihr also permanent unter Kontrolle …

Nein, nein, das nicht. Da drüben war ja dieses Zimmer Richtung Denkmal.

Ja, zur Hartmannstraße hin.

Gegenüber von unserem Zimmer war noch ein Viererzimmer für Mädels. Aber alles Glasscheiben. Es war also nicht alles durchgemauert. Und in dem anderen Zimmer waren sieben Betten. Ich habe direkt später, als ich aus dem Zimmer herauskam …

Daneben war ja gleich die Schulklasse. Und wenn wir frech wurden - was man damals als frech empfunden hat; heute würde man dazu gar nichts mehr sagen … Heute kannst du „Wichser“ sagen. Wenn du früher einen Vogel zeigtest, hast du gleich eins in die Schnauze gekriegt, auf Deutsch gesagt,. Bei Strafe wurde man auch allein in die Schulklasse gesperrt. Da haben sie einen auch mit dem „Bullemann“ erschreckt. Ich habe vorher nie Nylonstrümpfe gesehen. Da dachte ich: Das ist der Bullemann, und der bleibt es. Und damit haben sie einem Angst eingejagt. Das hat damals oftmals die Emmi gemacht. Das war aber keine Diakonisse. Die war Kinderpflegerin oder so was; ich weiß es nicht. Mit dem Bullemann haben sie einen erschreckt. Da sind sie mit dem Essensaufzug rauf und runter gefahren. Das haben sie wahrscheinlich von der Mitte aus gemacht oder vom Keller aus. Keine Ahnung!

Habe ich das richtig verstanden: Die haben sich verkleidet, sind dann in den Essensaufzug gestiegen. Oben hat dann einer den Essensaufzug hochgezogen …

Nein, nein, du kannst ja auch von unten den Aufzug ganz nach oben fahren. Das haben sie wohl mit diesen Stricken gemacht.

Und da habt ihr als Kinder Riesenangst gehabt.

Ja, natürlich, sicher.

Hattest du das Gefühl, daß du permanent geschlagen wurdest?

Permanent will ich nicht sagen.

Hin und wieder?

Es ist oftmals grundlos gewesen. Damals war der Ausdruck „doof“ natürlich was ganz Schlimmes. Heute sagt da kein Mensch mehr was. Aber bei uns gehörte sich „doof“ einfach nicht.

Hattest du permanent Angst?

Permanent will ich nicht unbedingt sagen. Aber jedenfalls hattest du Angst, wenn du merktest, ob das gut ist oder schlecht ist. Dann hattest du automatisch Angst, weil du Angst hattest, du kriegst eins auf die Fresse.

Was hast du denn auf der Kleinkinderstation beobachtet, was dir haften geblieben ist, wie die Schwestern zu anderen Kindern waren?

Das war bei jedem das Gleiche. In der Kinderzeit habe ich festgestellt - auch im späteren Leben -: Es gibt immer irgendwelche Leute - die nannte man die Schlüsselkinder -, die von allen verwöhnt werden, die auch nie eins aufs Dach kriegen. Das war zu meiner Kinderzeit Ulrike, später im Oskar-Funk-Haus der Norbert S., der auch so gut wie nie eins aufs Dach bekam.

Vorhin hast du - das habe ich nicht aufgezeichnet - irgend etwas von Sexualität gesprochen. Bezog sich das auch auf die Klein-Kinderzeit?

Es war das oberste Prinzip: Wir durften nie ein nacktes Mädchen sehen, aber die durften uns alle Nase lang sehen. Die Schwestern haben keine Hemmungen gehabt. Aber wehe dem, da lief ein Mädchen halbnackt herum. Das wurde sofort unterbunden, kam gar nicht vor. Aber wir mußten da nackig herumlaufen oder herumhüpfen zum Bad oder so. Da haben die Schwestern keine Hemmungen gehabt, auch die Emmi nicht. Vielleicht ja auch deswegen, weil das alles Frauen waren. Wir hatten keine männliche Pflegeperson; das waren alles nur Weiber. Ich gehe davon aus, daß das damit zusammenhängt, weil die sich sowieso sagen: Die Frauen gebären Kinder und sehen da sowieso einen Pimmel.

Wegen der lieben Sekretärinnen im Düsseldorfer Landtag solltest du deine Wortwahl etwas …(Das Gespräch wurde auf Veranlassung der Präsidentin des Landtags NRW dort geschrieben).

Was soll ich denn sagen. Als Kind haben sie zu uns gesagt: „Vögelchen“. Den Ausdruck „Penis“ habe ich erst 20 Jahre später gehört.

Wenn das mal ab und zu durchbricht, macht das auch nichts, aber …

In unserer Kinderzeit hieß das „Pillermann“ oder „Vögelchen“.

Eine total andere Frage: Hattest du auf dieser Kleinkinderstation irgendwelchen Unterricht?

J. schildert Grafiken in einer Fibel: Da saß vorne ein Mann mit einem Gartenschlauch, spritzte, und darunter standen drei Buchstaben "i". Bei "i" mußte man mit dem Finger vor den Kopf tippen, beim "o" ans Ohr packen, beim "e" neben der Lippe rechts, das "n" mit zwei Fingern an der Nase popeln, sage ich mal so, bei "m" vier Finger. Das ging jahrein, jahraus so. Ich habe mal gefragt, ob wir ein anderes Buch kriegen. Das gab es gar nicht. Wir haben die ganzen Jahre bis zum zehnten, elften Lebensjahr dieselbe Scheiße gehabt.

Hattest du also bis zum zehnten, elften Lebensjahr bei der Frau H. immer ein und denselben Unterricht?

Immer, die ganzen Jahre.

Warum kamst du denn nicht auf die normale Kinderstation?

Dazu komme ich gleich. - Die Frau ist selber behindert gewesen, hat auf der Frauenstation gelebt, hatte Rheuma. Und wenn der was nicht paßte, kriegte man ihre gekrümmte Pfote ins Gesicht geschlagen. Das hat die bei mir auch öfter gemacht. Die Fibel war irgendwann mal naß geworden - ich weiß nicht, ob durch Spucke oder Gequatsche -, dann war gleich großes Affentheater. Wenn wir da so gedrungen gesessen haben, Angst hatten und widerwillig waren, das gefiel den Schwestern auch nicht. Dann mußte man morgens schon auf dem Flur sitzen. Wenn man dann durch diese komischen Milchscheiben die H. antrotteln sah - aber nur als Schatten; man konnte die weiße Schürze etwas erkennen, aber nicht den Rest -, dann kriegtest du schon Panik und fummeltest dauernd an der Tischdecke herum, die mit einer Kette beschwert wurde.

Du hast also vor lauter Angst an dieser Tischdecke …

Herumgepopelt.

Und da hast du permanent Angst gehabt?

Immer. Da habe ich immer Angst gehabt, wenn ich auf dem Flur sitzen mußte. Die haben einem schon Angst gemacht. Wenn du deine Lehrerin auf dem Flur sitzen sahst, kriegtest du schon Panik. Das war katastrophal. Die Frau hatte auch so gut wie nie ein freundliches Wort auf den Lippen. Die war im Prinzip genauso wie die St.. Nur: Die St. hat noch kräftig zugekloppt. Die haute ja mit ihrem Krückstock, während der Lehrer (K.) 1960 das mit einem Rohrstöckchen gemacht hat. Jedenfalls kann man an der H. kein gutes Wort lassen.

Das Einzige, was schön war, waren die Feiertage und der Geburtstag vom K. K war damals, glaube ich, der Oberarzt. Bei dem wurde Geburtstag gefeiert. Im Prinzip war das wie in der Hitler-Zeit. Da haben die in den Familien auch Hitlers Geburtstag gefeiert, ohne daß er dabei war. Und das war bei K. dasselbe. K. war nie auf seiner Geburtstagsfeier bei uns gewesen. Aber prinzipiell wurde, wenn der Geburtstag hatte, bei uns gefeiert. Aber nicht in dem Stil, wie man das heute macht, mit Torte usw. Von wegen! Da wurde der Tisch gedeckt. Damals hatten wir noch keine Tischdecken; da wurde das mit Bettlaken gemacht. Das war ja auch einigermaßen schön. Dann hat Schwester Lenchen uns einen Schallplattenapparat zur Verfügung gestellt; da konnten wir den „Hohensteiner Kasper“ hören. Und dann gab es noch eine andere Platte, die für uns nicht bestimmt war. Das war Louis Armstrong. Und dann hatte sich der Salat. Es war aber jedenfalls besser als gar nichts. Ansonsten war die Zeit sehr trist und bekloppt. Man kann sich an zehn Fingern ausrechnen, was man in der Kinderzeit an Schönem hatte.

Mit welchen Personen hast du auf der Kleinkinderstation sonst zu tun gehabt?

Schwester A., Tante Hannchen - die hieß Johanna G, -, und dann die Emmy. Wie die mit Nachnamen hieß, weiß ich nicht. Dann später eine Ulla A. Und dann war mal eine ziemlich Junge. Vielleicht war die einem deswegen so gut gesonnen, weil sie, sage ich mal, noch nicht so verdorben war wie die Schwestern. Für die war das was Neues. Von der habe ich zum ersten Mal einen Schallplattenapparat gekriegt. Da konnte man die Schallplatten in einen Schlitz stecken. Die war sehr angenehm. Das Problem war nur, daß man von der nicht sehr viel hatte. Welchen Beruf die hatte - ob die Kinderpflegerin war -, weiß ich nicht. Die war nur sehr kurz da. Wenn die länger da gewesen wäre, wäre die von uns aus gesehen mit Sicherheit die beste Mitarbeiterin gewesen. Nicht, daß ich Schwester A. sehr gehaßt hätte; ich mochte die auch sehr gut leiden. Aber mir blieb ja auch keine andere Wahl, jemanden gern zu haben, außer der (A.) und Tante Hannchen, egal wie die waren. Wenn man keine Mutter hat, liegt es wohl in der Natur des Menschen, daß der sich irgendwo hingezogen fühlt, und wenn er noch so viel Prügel kriegt.

Ich habe also richtig verstanden, daß du bis ca. zum elften Lebensjahr von der behinderten Lehrerin Frau H. unterrichtet wurdest und immer nur den einen Schulstoff gehabt hast. Woraus konkret hat dieser Schulstoff bestanden?

Nur aus dieser Fibel. Wir hatten noch nicht mal ein Rechenbuch. Das war auch so eine Art Fibel, nichts besonderes. Man hat immer dieselbe Scheiße gehabt.

Wie viele Seiten hatte das?

Das habe ich nie gezählt. Das war ein ganz dünnes Heft, wie ein Comic-Heft.

Und das hast du also vom sechsten Lebensjahr an …

Immer! Bis zum zehnten Lebensjahr. Dann kam ich zwischendurch mal unten auf die Jungen-Station; das ist wieder was anderes. Da war die Schwester J., auch eine Diakonisse aus Königsberg oder was. Dann war da eine Frau Sch. Die war von allen Schwestern die bessere. Die war zwar auch streng. Aber die war nicht immer gleich dran, den Leuten … Jedenfalls habe ich die so kennengelernt. Ob die zu den anderen so nett war, weiß ich nicht, keine Ahnung. Ich war nicht sehr lange da. Und dann war ich bei dieser Frau St. Das war eine Lehrerin, wie sie im Buche steht.

Bevor wir uns darüber unterhalten …

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28. 01. 2008, 21:44 Uhr bis 22:11 Uhr, Telefongespräch Helmut Jacob mit Lothar D., ehemaliger Bewohner des Franz-Arndt-Hauses (FAH), über die Frage, ob und wie lange Leichen im FAH aufgebahrt wurden. Lothar sagte, er könne sich aus persönlichem Erleben noch daran erinnern, dass im Haus Verstorbene unter der Büste von Franz Arndt im offenen Sarg aufgebahrt wurden. Sie verbrachten dort ihre Zei bis zur Beerdigung, danach wurden sie zum Anstaltsfriedhof transportiert. Da das FAH zuvor “Kriegsinvalidenheim” war, sollten die Bewohner, auch etliche Kriegsinvaliden, Gelegenehit zur Verabschiedung haben. Erst in einem besonders warmen April, vor Fertigstellung des “Invalidendoms” (Martinskirche, Fertigstellung 1964) sei die Praxis der Aufbahrung beendet worden. Grund gewesen sei: Ein schwergewichtiger, korpulenter Behinderter sei während der Hitze (um die 30 Grad) in einem Zustand gewesen, dass die diensthabenden Diakonenschüler ihn nur mittels Schaufeln vom Tisch in den Sarg befördern konnten. Nach dieser Prozedur hätten sie sich beim Brüderhaus-Vorsteher über derartige Aufgaben beschwert. Kurz vor Einweihung der Martinskriche (1964) hätte schließlich das FAH mit einem Beerdigungsinstitut kooperiert.

Franz-Arndt-Haus, Blick auf den Wintergarten (unten) , in dem noch unter Diakon Str. Leichen bis zur Totenfeier aufgebahrt und danach zum Friedhof gebracht wurden. Foto: Scharf

Warst du zehn oder elf, als du auf der normalen Jungen-Station …

Ich bin auf der Schulstation nur vorübergehend gewesen. Warum, weiß ich nicht. Warum ich da wieder weg mußte, weiß ich auch nicht. Diese Lehrerin St. war unter aller Sau, wenn ich das mal so sagen darf. Das war der größte Rüpel, den ich kennengelernt habe. Zweitgrößter Rüpel war Frau S. Frau Sch. war auch streng. Aber bei ihr habe ich das nie so mitgekriegt, weil Frau Sch. bei uns nur einmal Vertretung war. Aber bei Frau St. - die war selber behindert - war Schlagen wirklich an der Tagesordnung. Der einzige, der nie geschlagen wurde von ihr - warum, weiß ich bis zum heutigen Tag nicht -, war ich. Aber dafür hat sie mich in die Ecke gestellt. Das war für mich genauso schlimm. Aber die anderen wurden tatsächlich mit ihrem Krückstock, mit dem sie ging …

Ich werde nie vergessen, wie sie einmal aus Versehen nicht aufpaßte und in die Suppenschüssel - so nannten wir damals den Behälter, in dem die Schwämme für die Wandtafel waren - hineingetreten ist und sich auf die Schnauze gelegt hat, wenn ich das so sagen darf. Ein Mädel - die hat hinten ganz rechts gesessen - hatte so einen Schiß vor ihr, daß die dadurch, daß sich die Alte in die Suppenschüssel hineingelegt hat, in weinerlichem Ton sagte: „Frau St., könnte ich …“ usw. „Ja, geh und hol Frau S.“ Die kam und holte sie wieder aus der Schüssel heraus. Die Frau war ziemlich schwer. Es dauerte aber nicht lange, da wurde das Mädchen wieder so derb angemacht und angeschnauzt. Es verging kein Tag ohne Ärger für die Kinder.

 

Das einzige, was an der Frau bewundernswert war, war, daß sie sehr künstlerisch veranlagt war. Das muß man sagen. Die machte Schneewittchen und die sieben Zwerge aus Kerzenwachs genauso wie ordentliche Porzellanfiguren. Sie hatte also auch gute Seiten. Nur: Ich habe davon selten welche gesehen, außer, daß sie künstlerisch veranlagt war.

Jedenfalls mußte ich irgendwann wieder hoch. Ich wohnte zu der Zeit auf der Schulstation. Da wurden, wenn die Kinder, die Eltern hatten, Obst, Gemüse, Süßigkeiten mitgebracht bekamen - das waren nicht allzu viele -, die Sachen aufgeteilt, vermutlich aus Gleichgültigkeit der Schwestern. Oder, was ich denke, daß die gedacht haben: Was sollen die Kinder mit so viel Obst. Das wird ja nur schlecht, das können die ja nicht alles wegessen. Daß sie deswegen uns, die nie etwas hatten, auch damit versorgten. Mir war das, ehrlich gesagt, ein bißchen peinlich, weil ich mir sagte: Das gehört mir nicht. Ich hab’s dann aber trotzdem gegessen. Da gab es ab und zu eine Apfelsine.

Wie lange etwa warst du auf der Jungenstation?

Das kann ich wirklich nicht sagen. Ein halbes Jahr, ein Jahr - ich weiß es nicht. Dort war das unter anderem auch mit den getrennten Eßsälen. Da gab es einen Mädchensaal und einen Jungensaal. Bei uns oben auf der Kinderstation war alles in einem. Da waren Jungen und Mädels zusammen. Wir mußten zusammen meistens in der Klasse sitzen, wie gesagt, in der Mittagszeit bis drei Uhr still und stumm auf dem Stuhl sitzen. Da war nichts mit Bett.

Und was die Schule anbetrifft, kam irgendwann mal der erste Rektor in die Anstalt. Der hat einen Reihentest gemacht, und der ist bei mir mit „gut“ ausgefallen. Dann bin ich mit noch einem Mädchen, die auch mit mir auf der Kinderstation war, ins Hermann-Luisen-Haus gekommen; da wurde eine Schulklasse aufgemacht, weil oben die Schule (Oberlinschule) noch nicht gebaut war. Da wurde im Hermann-Luisen-Haus, das ein reines Lehrlingsheim war - ein Männerheim, sage ich mal - eine Kinderstation aufgemacht. Die bestand aus einem Eßsaal, der gleichzeitig auch Schlafraum war. Das waren Vier-Betten-Zimmer mit einem langen Tisch. Dann gab es noch ein Zimmer, ein Sechs-Betten-Zimmer. Dann wurde später noch einmal ein Zimmer eingerichtet, in dem nur zwei, drei Betten waren.

Da kam ich zu Herrn K. Der war auch sehr streng; da gab es einen mit dem Rohrstöckchen. Wenn man drei Mal die Schularbeiten nicht gemacht hatte, wurde man ganz derbe bestraft. Ich kann ja nicht so gut schreiben. Damals war mein Wackelkontakt (mit Wackelkontakt meint J. Störungen der Feinmotorik der verbliebenen Hand, Zittern der gesamten Hand, wenn er irgend etwas anfaßt.) noch viel stärker als heute. Oft war ich auch zu faul. Wenn ich irgendwann eine Strafarbeit kriegte, bedeutete das eine ganze Seite (schreiben): „Ich muß die Schularbeiten machen“. Für einen, der gut schreiben kann, ist das ein Klacks, für mich allerdings nicht. Das war für mich eine dicke Strafe, weil ich so langsam war. Dann kommt noch hinzu: Jedes Mal kamen neue Schularbeiten hinzu. Hatte man da nicht alles perfekt gemacht, mußte man das am nächsten Tag noch einmal machen. Dann hieß es zwei Mal. Und beim dritten Mal gab es dann mit dem Rohrstock. Irgendeiner beim K. hat dann die Schularbeiten mit Absicht nicht mehr gemacht. Da ging er dann derbe zur Sache. Der hat jeden Tag danach Prügel gekriegt. Die Schularbeiten und die Strafarbeiten wurden immer verdoppelt und verdreifacht. Dann hat er (der Junge) sich irgendwann ein Holzbrett von einem Spiel in die Hose gesteckt. Der Lehrer haute darauf ein. Mit einem Schlag war der Stock gespalten. Dann mußte der Junge aufs Zimmer, die Hose ausziehen, Brett raus, wieder antanzen. Von da an hat der Lehrer jeden, dem er einen auf den Arsch gegeben hat, vorher in den Arsch gekniffen, um festzustellen, ob er sich nicht abgepolstert hat.

Dazu muß man aber sagen: Er war sehr streng, aber er hatte einen Vorteil. Kinder, die kein Zuhause hatten, hat er zu sich nach Hause für ein paar Stunden eingeladen. Der hat uns auch in der Weihnachtszeit oder in der Sommerferienzeit von der Kinderstation heruntergeholt und ist mit uns spazierengegangen. Er hat sogar seine Kinder mitgenommen. Die waren damals schon über 20. Die haben dann mitgeholfen. Das war der einzige Vorteil. Daran kann man ja sehen, daß der auch was für uns übrig hatte. Das muß man ganz eindeutig sagen, sonst hätte er das ja nicht gemacht, uns in den Ferien zu Hause aufzunehmen. Und wenn es auch nur für ein paar Stunden war. Aber er war derjenige, der für uns was getan hat. Dieser Lehrer ist damals gegangen, weil die Anstalt es für besser hielt, die Martinskirche zu bauen, statt die Oberlinschule. Darüber war er sehr erbost. Die Martinskirche - das weiß ich noch - hat damals 4 Millionen gekostet. Die haben ja damals die Spendentöpfe in der alten Holzkapelle gehabt. Die war fast nie voll. Das Holzhäuschen steht heute noch. Aber die war sonntags nicht mal zur Hälfte voll. Wir waren gezwungen, zur Kapelle zu gehen. Wir durften da nicht wegbleiben. Wir mußten. Da gab es kein Pardon.

Wer hat euch gezwungen?

Dagegen haben wir gar nicht opponiert. Für uns war schon schön, daß wir einen kleinen Weg bis zur alten Holzkapelle hatten. Das war für uns schon ein bißchen abenteuerlich. Deswegen sind wir freiwillig mit in die Kirche gegangen.

Ist denn der Direktor K. schon zu der Zeit da gewesen, als noch die St. da war?

Ich weiß nicht, wann die St. und die S. weggingen. Die Sch. war jedenfalls noch da, weil ich bei ihr noch Schule hatte. Der K. ist aus dem einfachen Grund abgehauen, weil die zuerst die Martinskirche gebaut haben statt der Oberlinschule.

Du hast eben erzählt, die Frau St. war die Allerschlimmste.

Das war die Schlimmste, ja.

Und dahinter kam die S.?

Ich kann mich nicht erinnern, daß ich jemals Freundlichkeiten bei denen erlebt habe. Da war Frau Sch. eine ganz andere. Die ist zwar nicht liebevoll mit uns umgegangen - das will ich nicht sagen -, aber sie hat uns oft in Ruhe gelassen. Sie hat also nicht permanent auf irgendeine Scheiße geachtet, die den Lehrern oder Schwestern mißfiel, wo sie gleich „Hau den Lukas“ (schlagen) machen konnte. So war die Sch. nicht. Vor der Sch. hatte ich auch Angst. Aber sie hat einem komischerweise nie was getan, mir jedenfalls nicht. Das muß ich wirklich sagen. Aber Angst hatte man trotzdem, weil man wußte: Man kennt nichts anderes außer Schlechtigkeiten.

Dieses halbe oder eine Jahr, das du auf der Jungen-Schulstation verbracht hast - hast du da etwas gelernt?

Nein, im Prinzip auch nicht.

Worin hat sich denn da dein ganzer Lese- und Lernstoff erschöpft?

Heute würde man sagen: Das ist eine stinknormale Angelegenheit. Aber wir Kinder hatten mehr oder weniger das Gefühl von Abenteuer in der Schule. Es gab andere Fächer, die du vorher nie hattest. Naturkundeunterricht - das waren böhmische Dörfer für uns - oder sonstige Sachen. Wir hatten ja nur diese Fibel und ein bißchen Rechnen. Es war immer dasselbe, jahrein, jahraus.

Du kamst ja dann zu Frau St.

Da habe ich zum ersten Mal ein Zeugnis gekriegt. Das wurde seinerzeit, weil wir noch keinen Rektor hatten, von dem Anstaltsleiter Pastor K. unterschrieben. Ich habe, glaube ich, sogar noch so ein Zeugnis. Das muß irgendwo im Keller sein; ich weiß es nicht. Im Hermann-Luisen-Haus war es ein bißchen abenteuerlicher. - Doch, einmal habe ich von Frau Sch. doch eins aufs Dach gekriegt.

Mich würde jetzt interessieren, was du bei Frau St. für Unterricht hattest.

Rechnen und Deutsch. Damals hieß das einfach Lesen und Schreiben. Mehr war das nicht. Das Schlimmste war für mich Auswendiglernen.

Was?

Weiß ich nicht mehr. Ich konnte bis zu dem Zeitpunkt noch nicht mal richtig lesen. Ich konnte zwar die Buchstaben in der Fibel - das konnte ich, das war ja nun Idiotensache. Aber Worte als Sätze zusammensetzen, das war nicht drin. Das habe ich erst im Hermann-Luisen-Haus gelernt. Bei der St. mußten wir auch auswendig lernen. Das hat die uns immer vorgeblubbert. Ich konnte zu der Zeit gar nicht lesen, ich hab’s ja auch nicht beigebracht gekriegt. Mit i und o allein konntest du ja nichts anfangen. Das kam erst im Hermann-Luisen-Hause. Das ging ruckzuck.

Die K., die eine hochchristliche Frau war, war eigentlich die erste Person, die auch das umgesetzt hat, wovon sie gequasselt hat. Mir gefiel das alles nicht so. Sie war sehr christlich. Jesus Christus war immer an erster Stelle bei ihr. Aber was die gepredigt hat, hat sie auch in Taten umgesetzt. Die hat zum Beispiel für Kinder, die kein Zuhause hatten, gesorgt. Wir sind einmal eingeladen worden in ihre Baptistengemeinde. Wir sind da alle sehr herzlich aufgenommen worden, haben Kaffee und Kuchen gekriegt. Aber richtigen Kuchen, nicht nur Streuselkuchen und Berliner Ballen. Soll ich auch noch übers Essen reden?

Ja, aber bevor wir das tun, habe ich eine Frage. Aus der Zeit, wo du ein Jahr bei Schwester J. warst, fallen dir da noch irgendwelche schönen Dinge ein?

Das Einzige, was auf der Station war, war für mich, daß ich da auch mal was kriegte. Seinerzeit lebte ja meine Tante in der Ostzone. Die kriegten ja, was ich später erfuhr, kein Obst. Die kriegten das von den Verwandten zugeschickt. Und sie hat mir dann wieder das Obst zugeschickt. Das hat sie damals in Wachspapier eingepackt. Ich kriegte zwei Mal im Jahr ein Päckchen von ihr, was sie entbehren konnte. Und darin hat sie mir dann auch Obst geschickt.

Dann sollten wir uns noch etwas über die Zeit nach der Zeit auf der Schulstation unterhalten. Dann frage ich dich auch noch, wie die Verpflegung war.

Gut, daß du das sagst. Das hätte ich vielleicht sogar vergessen.

Es geht darum, wie es dir geschmeckt hat.

Zunächst einmal muß man sagen: Bei uns gab es eigentlich immer nur das selbe, Graupensuppe, Erbsensuppe, Gemüsesuppe. Dann gab es Fisch, Fisch, Fisch. Und was gab's noch? Rührei und Spinat. Das ist das einzige, was mir überhaupt geschmeckt hat. Das Rührei haben die Schwestern auch selber gemacht. Da bin ich im Anschluß immer an die Teller gegangen und habe sie abgeleckt. Und Wurstsorten? Das war oftmals ein Schinken, den du kaum auseinanderziehen konntest. Das war absolut nicht lecker. Als Kuchen gab es nur Streuselkuchen und ab und zu Berliner Ballen. Mehr gab es nicht.

Das einzige, was von allem Essen wirklich lecker war, gab es nur einmal im Jahr, nämlich Kartoffelsalat mit Würstchen, und die mußte man sich noch teilen. Das war Weihnachten. Ansonsten hat es nie Wurst gegeben. Bratwurst, Koteletts und Frikadellen kannte ich überhaupt nicht. Das lernte ich erst im Hermann-Luisen-Haus kennen. Da gab es schon mehr Essenssorten. Maggi kannte ich gar nicht, Senf kannte ich gar nicht. Wir kannten so gut wie nichts. Und dann gab es noch Königsberger Klopse. Die haben aber auch nicht geschmeckt. Und wenn wir das Essen nicht essen wollten - wir mußten es essen -, dann blieb das so lange stehen … Und wenn wir dann gebummelt haben, dann wurde der Pudding - das hat mir geschmeckt: Wackelpudding, Waldmeister - in das Essen hineingetan, zumindest auf denselben Teller haben die den Pudding hineingeschüttet. Und dann haben wir zugesehen, daß wir das Essen schnell heruntergewürgt haben, damit wir auch den Pudding kriegten. Aber dann kriegten wir den Pudding nicht in irgendeiner Schüssel. Aber haben wir gebummelt und wollten nicht essen, haben sie den Pudding mit auf den Teller getan, in dem die Suppe war. Das war dann auch wieder nicht schön. Aber man hat gegessen, weil man gerne Pudding gegessen hat.

Wie gesagt: So etwas wie Würstchen gab es nur einmal im Jahr. Frikadellen und das ganze Luxusessen, was es im Hermann-Luisen-Haus gab, gab es damals noch nicht. Und weitaus später, im Oskar-Funcke-Haus … Ich habe das Oskar-Funcke-Haus kennengelernt, weil ich auf dem Ponyhof war. Da gab es Leberwurst und so etwas; das kannte ich überhaupt nicht. Buko und Philadelphia, das war schon wirklich Hotelessen für mich. So gutes Essen hat es damals nie gegeben, nicht mal im Hermann-Luisen-Haus.

Wie haben die euch denn gezwungen, das Essen zu essen?

Manchen Leuten haben sie die Nase zugehalten. Du mußtest. Du hast Angst gehabt, wenn du nicht gegessen hast.

Wieviel gab es zu trinken.

Wir kriegten damals Muckefuck. Der war gut, den habe ich immer gern getrunken. Milch gab es nicht allzu oft. Und wenn, dann haben wir die verschlungen. Was für mich sehr schlimm war: Wenn wir draußen waren, gab es sogar Brötchen. Allerdings nicht so, wie das heute üblich ist, daß du Margarine drauf tatest oder Butter, Marmelade, Käse oder Wurst. Trockene Brötchen! Da konnten wir froh sein, wenn wir mal draußen Muckefuck kriegten. Milch gab es eigentlich sehr selten. Ins Hermann-Luisen-Haus sind alle gehetzt, wenn es um Milch ging, weil es die nicht immer gab.

Wieviel hat es gegeben? Hast du eine Tasse Kaffee zum Frühstück gehabt oder drei?

Wir hatten Blechpötte, kein Porzellan. Die Blechpötte reichten aus zum Kaffeetrinken.

Und die haben die Blechtöpfe ein einziges Mal gefüllt?

Das reichte aber aus. Die waren so groß, daß man damit gut auskam.

Eine andere Frage: Wie sah denn das Frühstück aus? Hat es da Brötchen gegeben?

Nein, nein, morgens gab es bei uns keine Brötchen. Morgens gab es oft Rührei. Da habe ich die Teller von anderen abgeleckt, weil ich das so gerne gegessen habe. Da gab es normales Brot, aber nicht so weich, wie das heute ist. Das war alles ziemlich fest. Vielleicht weil es dann nahrhafter ist; ich weiß nicht, aus welchem Grund. Da gab es nichts besonderes. Es war eigentlich immer dasselbe: Käse, Käse, Käse.

Auf der Kinderstation bei Schwester J.kriegte man auch Harzer-Roller, allerdings stank der immer so, daß ich mich davor ekelte. Wie die anderen Leute das empfunden haben? Es gibt ja Leute, die es gerade mögen, wenn es stinkt. Dann ist das für die eine Delikatesse. Für mich allerdings nicht. Im Hermann-Luisen-Haus gab es dann noch diesen Schinken, an dem man sich die Zähne ausbeißen konnte. Der gekochte Schinken ging. Den habe ich aber nicht gerne gemocht. Ich mochte von dem Essen eigentlich gar nichts außer Rührei und Pudding und Erbsensuppe. Alles andere war ekelhaft, vor allen Dingen Graupensuppe. Bis heute denke ich noch an die Graupensuppe. Und wenn wir mit dem Essen nicht fertig waren, wie gesagt, kriegten wir den Pudding da hingeklatscht, und dann haben wir das auch gegessen, nur damit wir den Pudding essen konnten. An Getränken gab es Muckefuck, den ich sehr gerne getrunken habe, Tee und Kakao. Aber der Kakao war nicht wie Nesquick heute. Das war bitteres Zeug. Selbst wenn wir Zucker hineintaten, hat er immer noch nicht geschmeckt. Das war eine ekelhafte Brühe. Vielleicht war das damals, weil es noch kein Nesquick gab und man Traubenzucker hineintat - keine Ahnung, womit das zusammenhing. Jedenfalls war das Essen nicht sehr lecker. Ich muß aber ehrlich sagen: Im Hermann-Luisen-Haus hat mir auch nicht alles geschmeckt. Ich mußte mich auch an Bratwürstchen gewöhnen.

In der Zeit, als du auf der Jungenstation warst, durftet ihr da spazierengehen?

Ich war oftmals auf dem Hof, wo die alte Holzkapelle stand. Die steht heute noch da, abgesehen davon, daß der Kirchturm nicht mehr da ist. Mehr war das nicht. In meiner Kinderzeit war die weiteste Strecke bis zum "Schwarzen Weg" (Fußweg zwischen der Orthopädischen Klinik und dem heutigen Haus Magdalena nach Grundschöttel). Da lernte ich Sauerampfer kennen. Ich weiß heute zwar nicht mehr, wie das aussieht. Das hat übrigens sehr lecker geschmeckt. Da hatten die Brause mitgenommen. Das war einmalig für uns Kinder. Das war zwei oder drei Mal in den ganzen Jahren. Mehr war das nicht. Sonst gab es nur "um den Pudding gehen". Das war das Riesenstück zwischen Franz-Arndt-Haus und dem ehemaligen Margarethenhaus. Es war schon ekelhaft, wenn ich da unten am Franz-Arndt-Haus vorbei mußte. Das stank da immer bis zum Erbrechen. Das war wirklich schlimm. Bis oben hin zur Straße war das ganz schlimm.

Hattest du denn als Junge auch Kontakte zu den Mädchen? Immerhin hat ja der Jungen-Eßsaal direkt am Mädchen-Eßsaal …

Nein, ich nicht. Warum das so war, weiß ich nicht. Ich kann mich auch nicht daran erinnern, daß ich selber unten mit auf dem Platz (Hof am JHH, auf dem sich die Schulkinder selten aufhalten durften) war. Wir mußten ja ohnehin da unten durch. Wo die Kapelle war, war für uns (Kleinkinder) der Hof. Der unterste war für die Schulstation. Da mußten wir an diesem Leichenkeller vorbei und links in den Gang. Auf der Schulstation waren sogar ein Kletterpilz, ein Rundlauf. Das war bis vor einigen Jahren. Dann hat das irgendein Idiot weggemacht, obwohl da heute auch ein Haufen Kinder sind; da ist ja (heute wieder) Schule. Die haben die ganzen Spielklamotten, die damals gespendet wurden, alle weggemacht. Das muß ein Schweinegeld gekostet haben. Das war der einzige Spaß, den wir hatten. Bei uns auf dem Hof war so ein Ding, wo man an einem Metallrad drehte und es sich dann drehte (kleines Kinderkarussel, Sitzgestell im Kreis, das an einer mittig angebrachten Scheibe mit den Händen gedreht wurde.). Daran hatten wir unseren Spaß. Sonst war da nichts. Sonst wurde sich in der Schulklasse aufgehalten. Bei uns war es so: Wir haben in der Schulklasse stundenlang gegessen, von mittags bis drei Uhr, ohne ein Wort zu sagen. Immer nur auf dem Stuhl gesessen. Ich bin auch mal festgebunden worden, kriegte von einem, der sabberte … Das war das „Pittchen“. Der konnte nichts dafür. Aber in dem Zeug hat sich der Gestank festgesetzt. Ich wurde auf einem Stuhl - ja, man konnte sagen - gefesselt …

Wie oft habt ihr denn frische Unterhosen anbekommen?

Einmal die Woche. Wir haben auch zu zweit im Badewasser gesessen. Das Badewasser wurde auch für den Nächsten benutzt. Es wurde kein frisches Wasser reingelassen. Erst ab dem zweiten Bad, aber jeweils immer mit zwei Kindern.

Hat sich das geändert?

Das will ich noch nicht mal als schlecht beurteilen. Das machen viele Eltern auch, die tun auch ihre Kinder zu Zweit in die Badewanne. Das kann man nicht als schlecht bezeichnen.

Hat sich das geändert, als du auf der Schulstation warst?

Das war damals so, daß mehrere Badewannen da waren, auch mehrere Waschbecken. Bei uns auf der Kinderstation gab es nur eine Toilette, nur eine Badewanne, und auf den Zimmern waren zwei Waschbecken, die man als Tröge bezeichnen kann. Da konnten die allerdings nichts für. Das war bei euch auf der Schulstation besser. Da waren mehrere Waschbecken. Da gab es diesen sogenannten Waschraum. Das gibt es heute auch noch im Franz-Arndt-Haus. Das war nicht mehr mit so massig vielen Waschbecken und massig vielen Badewannen.

Du hattest eben, während wir eine kurze Pause gemacht haben, erzählt, wie du bei der St. auswendig gelernt hast. Kannst du das noch einmal wiederholen?

Die St. hat uns irgendwas vorgelesen, und das mußten wir auswendig lernen. Einmal hat sie es vorgelesen, dann hat sie kurz eine Runde gemacht, gefragt: "Was hast du gehört?" … Da konntest du gar nichts behalten, weil das eigentlich immer Streß war in der Schule. Keiner von den Schülern hat davon was behalten. Es war permanent Streß. Damals war ja Halbtagsschule, gab es noch keine Ganztagsschule. Mittags mußten wir kommen, das war für uns Strafe ohne Ende. Von mittags bis vier Uhr mußten wir die Frau ertragen. Dann hat sie alle halbe Stunde vorgelesen, aber mehr nicht. Wir hatten nichts zum Lesen. Also konnten wir auch nicht auswendig lernen. Der Streß war so gewaltig, daß du gar nicht lernen konntest. Das war so eine Katastrophe bei der Alten.

Andere damalige Kinder haben erzählt, daß sie eine unheimliche Angst hatten vor der St.

Das war gang und gäbe. Auch vor dem Chefarzt Dr. X Damals war er ja noch nicht Chefarzt. Von dem Geburtstag habe ich ja schon erzählt.

Aber du hast noch nicht erzählt über die Angst, die du vor Dr. X. hattest.

Dr. X. war der größte liebe Gott von der ganzen Anstalt. Das war ein Bösewicht ohne Ende. Ich habe es erlebt, daß er sogar mit seinen Privatpatienten ganz schön ins Gericht gegangen ist. Der hat die da zusammengeschissen vor den anderen Leuten. Wenn er die wenigstens in seinem Büro zur Sau gemacht hätte.

Ich war ein kleiner Junge, war gerade sieben, acht Jahre alt, da mußte ich da oben hoch zur Gehschule. Da hat der eine fremde Person vor allen Leuten so derbe angemacht.

Wenn er Geburtstag hatte, wurde Geburtstag gefeiert, ohne daß er dabei war, wie ich vorhin schon erzählte. Er hat sogar mal Nikolaus gespielt. Ich habe so eine Angst vor dem gehabt. Der kam mit einem dicken Stock. Geschlagen hat er einen damit nicht, aber eine gelatscht kriegte ich von dem auch mal. Da hatte ich so eine Angst. Es war Nikolaus und ich kriegte spitz, daß er das war. Als Kind hat man eine große Schnauze und hat gesagt: Der Nikolaus wird nur gespielt. Und wenn er dann da war, hatte man doch Angst. Ich habe sogar aufgepaßt, was der für eine Hose anhatte unter dem langen roten Mantel. Einmal war es der Gustav, das war ein Hausmeister. Als der X. das war, bin ich fast der Lehrerin auf den Schoß gekrochen, weil ich so eine Angst hatte. Heute macht man mit dem Nikolaus ja kaum noch Angst. Aber bei uns war immer Angst mit im Spiel.

Wie ist denn das Verhältnis von Dr. X. zu euch Kindern gewesen?

Genauso schlecht. X. war auch nicht freundlich.

Hat er euch auch mißhandelt?

Was heißt "mißhandelt"? Von dem habe ich auch schon mal eins drauf gekriegt.

Hast du denn richtige Angstzustände gehabt?

Natürlich. Ich hatte immer Angst. Sobald irgendeine Person von auswärts kam, hat das nie was mit Freude zu tun gehabt. Das gab's nicht. Das einzige war die Tante, die ab und zu von der Ostzone herüberkam. Daran hatte ich Freude. Und allein wenn man bei anderen zugeguckt hat, wenn die was gekriegt haben, darüber habe ich mich schon gefreut. Nur zuzugucken. Ich selber hatte selten von der Tante Besuch, auch aus Ostfriesland. Aber selbst meine Cousine, die heute ja auch eine erwachsene Person ist, kam als Kind ein oder zwei Mal mit ihrem Vater zu Besuch, unter anderem auch bei der Konfirmation. Die hat immer nur die schlechtesten Seiten davon mitgekriegt. Wenn wir heute telefonieren, erzählt sie immer wieder, was das für Typen waren, wie die mich fertig gemacht haben usw., auch die Schwestern. Da denkt die heute noch dran, obwohl die nur zwei, drei Mal in meiner Kinderzeit da war.

Es war so gut wie gar nichts an Freude. Das einzige war wirklich Weihnachten und Ostern und ab und zu, wenn irgendwelche Festivitäten waren. Das waren aber nicht so Festivitäten wie heute bei Kindern. Das war alles ziemlich billig. Das einzige war, daß die die Tische schön gedeckt hatten. Andere Leute haben sich über das Blechgeschirr aufgeregt. Das hat mich eigentlich nie gestört. Wenn ich Porzellangeschirr gekriegt hätte, wäre wahrscheinlich dauernd was kaputt gewesen.

Im Oskar-Funcke-Haus war es sogar so - das ist ja das erste und richtige Kinderheim -, da hat Röder, der Ausbilder für die Diakone war, sich um uns Kinder gekümmert, was Schularbeiten oder Briefeschreiben anbetrifft, weil wir das nicht gut konnten - ich wegen meinem Wackelkontakt usw. -, der ist der Einzige gewesen, der human war, der humanste von allen Hausleitern. Er hat sich sogar dafür eingesetzt, daß die Kinder keine Blechpötte kriegten - mich persönlich hat das nie gestört -, daß die Kinder … Ich war mal auf der Mitarbeiter-Weihnachtsfeier eingeladen. Da hat der Röder richtig betont, daß er dafür gesorgt hat - damit hatte er ja Recht; man kann sich ruhig mit irgendwas schmücken, wenn man was getan hat -, daß die Kinder - ich sage mal so - nicht mehr aus dem Blechnapf fressen müssen. Obwohl Porzellan bei den Kindern kaputt ging, hat er es durchgesetzt. Das ist bis heute so geblieben, daß die Kinder alle Porzellanteller kriegen. Das war bei uns (im JHH) nicht der Fall. Da wurde aus den Blechpötten gegessen, ob die verbeult waren oder nicht. Mich persönlich hat es nie gestört. Aber andere Kinder hat es schon gestört.

Wie hieß denn im Johanna-Helenen-Heim zu deiner Zeit die Hausleitung, wie die Anstaltsleitung?

Eine hieß irgendwas mit E. und später war es Schwester Ma.. Das war eine ganz Lange, Dünne, auch eine von den Diakonissenschwestern. Die hat man aber selten zu Gesicht gekriegt.

Hieß die eine nicht Elf.?

Kann sein, ich weiß es nicht mehr.

Hieß die ganz lange Dünne nicht Elf.?

Doch.

Und die dahinter, hieß die …

Kann ich dir jetzt nicht mehr sagen. Die hatte auch eine Haube wie die Schwester … Ich komme jetzt nicht auf den Namen. Die Letzte, die ich da kennen gelernt habe, war die Elf. Das war eine ziemlich Lange. Danach kam noch eine, da war ich aber nicht mehr da. Die war auch von den Diakonissen. Und davor war auch noch eine, entweder Schwester F. oder I.; das weiß ich nicht mehr.

F. hieß die.

Das war eine Kleine, etwas gedrungener. An der Frau hat meine Cousine auch kein gutes Haar gelassen. Wenn die erzählt, schlackere ich auch immer mit den Ohren. Ich habe das ja nie mitgekriegt, was sich da abgespielt hat. Meine Mutter hat mir auch mal erzählt - obwohl ich so gut wie keinen Kontakt zu meiner Mutter hatte - daß die mal so einen Ärger gehabt hat, daß sie keine Lust mehr hatte, mich zu besuchen. Das war aber die Größere. Die soll meine Mutter mal so zusammengemacht haben. Ich gehe davon aus, weiß es nicht mehr genau, kann es ja auch nicht mehr nachfragen, meine Mutter ist ja tot. Ich glaube, daß die (Heimleiterin) sogar wollte, daß die (Mutter) sich regelmäßig um mich kümmert. Das hat sie wohl nicht immer in gutem Ton gemacht, wie ich das in Erinnerung habe. Ich habe das ja nur am Rande mitgekriegt. Die hat meine Mutter wohl so derbe angemacht. Sie ist dann wohl aus dem Grunde nicht mehr dahingekommen. Ich habe meine Mutter mal aus Neugierde besucht. Das war auch ein Affenzirkus. Aber das lassen wir mal dahingestellt.

Und wie hieß der Anstaltsleiter?

Jetzt kommen wir auf den Punkt. Der erste Anstaltsleiter, den ich kennengelernt habe, war der Pastor V., der Vater vom Helmut V., der vor einiger Zeit gestorben ist. Dessen Vater war ab und zu mal bei uns. Der hat sich nicht um uns gekümmert, mal mit der Hand über den Kopf gestreichelt, wie man das mal so bei Kindern tut. Der kam hoch, um ein bißchen zu quatschen - nur mit den Erwachsenen, nicht mit uns.

Das muß man eigentlich sagen: Die Schwester J., die selber eine sehr strenge Frau war - ich habe dann ja auf dem anderen Zimmer bei Schwester A.  gewohnt … Ich hatte mein Bett direkt neben der Tür vom Flur. Genau gegenüber von der Tür war ein Telefon. Bald jeden Abend hat Schwester J. sich über die Lehrerin, Frau St., beschwert und zwar bei der Schwester von Herrn V., dem damaligen Anstaltsleiter. Fast jeden Abend war die bei uns am telefonieren. Die hat jahrelang herumgewütet, die St., ohne daß der V. was gemacht hat. Sie hat sich allerdings nicht bei Herrn V., sondern seiner Schwester beschwert. Die war, glaube ich, Lehrerin in der Klinik. Bald jeden Abend hat die sich am Telefon beschwert, obwohl Schwester J. Rücken sah, wenn die Lehrerin auf die Kinder eingedroschen hat. Ich muß noch mal betonen, daß das meistens Willkür war. Ich habe nicht ein einziges Mal in Erinnerung, daß die ein Kind gestreichelt hat. Das gab es nicht. Das habe ich nie erlebt. Das hat nicht mal die H. gemacht.

Die H. konnte kaum zuschlagen. Aber was die machen konnte, hat die gemacht mit ihrer komischen Rheuma-Pfote. Das war mir als Kind schon peinlich gewesen, von der ein paar geballert zu kriegen. Die konnte nicht fest zuschlagen. Aber diese runde Faust, weil sie ja Rheuma hatte, wenn die schon an die Backe kam, das war als Kind für mich beschämend, so eine Faust in die Fresse zu kriegen. Wie gesagt, das tat nicht weh. Aber das war so was von erniedrigend und ekelhaft, das kannst du dir überhaupt nicht vorstellen.

Auch als Kind war ich schon so clever, um zu denken, meine Güte, wenn die J. sich bei der Schwester vom Anstaltsleiter, Herrn V., beschwert, kann das ja mal irgendwann bei ihm ankommen. Die ganzen Jahre, solange ich da im Johanna-Helenen-Heim war, ist niemals irgendwie eine Rüge gekommen. Das machen sie sowieso nicht im Beisein der Kinder. Aber es kann ja schlecht angegangen sein, daß er sich die mal vorgeknöpft hat. Normalerweise geht man davon aus, daß der (V.) sich mal sagt: Jetzt muß ich mit der Lehrerin mal sprechen. Das kann gar nicht gewesen sein, weil die immer und immer wieder dieselbe Scheiße gemacht hat. Also gehe ich davon aus, es kann sein, das V. Schwester das vielleicht mal erzählt hat, weil Schwester J. und die befreundet waren, daß der V. aber gleichgültig gedacht hat, leckt mich alle am Arsch mit eurem Mist da. Nur gut dastehen und … Weiß ich nicht, denke ich mal so.

Und nach V.?

Nach V. kam Pastor K.. Der muß - da kann mir keiner was erzählen - das auch mitgekriegt haben. Nachdem ich auf die Kinderstation kam, war die St. noch da. Wie lange, weiß ich nicht. Ich weiß auch nicht mehr, wann der Pastor K. als Anstaltsleiter angefangen hat. Jedenfalls hat auch Pastor K. nichts unternommen. Aber irgendwann war sie weg. Ob er dann etwas unternommen hatte, kann ich nicht beurteilen. Da war ich ja weit vom Schuß entfernt. Wie die weggekommen ist, kann ich nicht sagen. An das Johanna-Helenen-Heim war angebunden das sogenannte Hexenhäuschen. Ob das vielleicht deswegen diesen Namen bekommen hat, weil die (St. und S.) mehr Hexen als freundliche Menschen waren … Zu anderen sagten sie immer "Guten Tag" usw. Aber bei uns Kindern war nichts zu spüren von Freundlichkeit. Daß man uns gestreichelt hat oder so, das gab es gar nicht. Das wäre schon Luxus gewesen.

Ich habe noch eine Frage. Dann hast du die Zeit mit den Diakonschülern und Diakonischen Helferinnen …

Das war später.

Kannst du da einiges zur Sexualität …

Dazu kann ich nur eins sagen: Bei uns war es so, grundsätzlich durften Mädchen bei uns überall hingucken, wir aber nie bei Mädchen. Da wurden grundsätzlich die Türen zugemacht.

Da war unter anderem der Axel. Der war Brillenträger. Zu der Zeit gab es immer diesen Zellstoff und den Penatenpuder, womit die versorgt wurden. Wenn der zum Baden ging, da baumelte der Pimmel da herunter. Das sah ekelhaft aus, für mich jedenfalls. Da war einmal eine Sache mit dem Erich. Da hatte die Emmi den so derbe angeschissen - ich habe nicht mitgekriegt, ob der geschlagen wurde. Ich weiß eins: Der war fix und fertig. Der war fast ein ausgereifter Mann. Das konnte man sehen. Das baumelte auch so runter. Ich weiß noch ganz genau, daß die Alte den fertigmachte. Er würde sich ständig am Pillermann, wie das damals für uns hieß - die Schwestern sagten "Vögelchen" dazu - … Da hat die den so angemacht, weil der wohl so groß war und er sich ständig daran herumspielte. Ich weiß noch ganz genau, daß der fürchterliche Angst hatte. Da saß der auf dem Scheißhaus. Bei uns gab es nichts mit Abschließen. Obwohl ich noch nie in meinem Leben einen Erwachsenenpimmel gesehen hatte, es war für ihn eine ganz schreckliche Nummer, wie die Emmi ihn zur Sau gemacht hat, weil er sich da unten herumspielte. Sie hatte ja auch selber ein Kind. Also mußte sie wissen, wie ein Erwachsenenpimmel aussieht. Ich glaube nicht, daß sie intravenös das Kind eingepflanzt bekommen hat. Das war eine ganz derbe Sauerei. Der hat ganz schwer darunter gelitten. Der hat so ein Gesicht gezogen, war am Heulen wie ein Bekloppter.

Unter anderem hatten wir auch ein paar Leute, deren Hospitalismus teilweise erzwungen war. Einer war da zum Beispiel - wenn ich das nebenbei erwähnen darf … Der hatte schon so eine Macke, daß er nur aus lauter Langeweile in der Wand popelte. Wenn die Schwester das gesehen hat, kriegte der einen auf die Glocke wie ich. Der popelte sich richtig schön dadurch. Die Wände waren ja nicht tapeziert. Bis zur Hälfte waren die lackiert. Man konnte sie also abwaschen. Eine kleine Macke war da drin. Und da hat der seinen Finger ständig drin gehabt und gepopelt. Dann hatten wir noch einen daneben in dem Raum - da war alles offen zu sehen -, der hatte als Hospitalismus - weil man sich nicht um den gekümmert hat - daß er sich immer die Haare ausriß. Der hatte fast Glatze. Der lebt heute im Franz-Arndt-Haus, Hilmar, der kann nicht sprechen. Da ist heute aber nichts mehr mit Glatze. Daß er sich da büschelweise die Haare rausreißt, das ist nicht mehr. Ich sehe den ganz selten. Aber der hat mit Sicherheit auch noch Hospitalismus, aber mit Sicherheit nicht mehr so, daß er sich die Haare rausreißt, sonst würde man das ja noch sehen. Er kriegt da im Franz-Arndt-Haus auch keine großartige Zuwendung. Aber er wird ab und zu mal spazieren gefahren von diesen Christen, die da oben Gottesdienst halten. Vielleicht hat das dadurch aufgehört, daß er sich büschelweise die Haare rausreißt. Dieser Hospitalismus war aber eine knallharte Klamotte.

Die Kinder, die Hospitalismus gezeigt haben, also mit dem Kopf hin- und hergewackelt haben, hat das irgendwelche Konsequenzen gehabt?

Ja natürlich. Wenn die das gesehen haben, hat es was hinter die Ohren gegeben, kräftig. Ich auch.

Wie war denn überhaupt die Freizeitgestaltung?

Freizeitgestaltung - nein.

Um ca. vier Uhr war ja dann der Schulunterricht …

Nein, nein. Die Schule war normalerweise um zwölf Uhr beendet. Es wurde dann Mittag gegessen. Danach still auf dem Stuhl sitzen, keinen Ton reden bis drei Uhr. Im Prinzip die restlichen Stunden bis fünf Uhr, wo wir uns dann ausziehen mußten, bis zum zwölften Lebensjahr, also auch im Hermann-Luisen-Haus mußten wir um fünf Uhr ausgezogen sein … Aber im Hermann-Luisen-Haus hatten wir noch das Glück, daß wir mit dem Schlafanzug auf dem Flur herumtoben konnten. Aber im Johanna-Helenen-Heim war Zapfenstreich. Das heißt, wenn man glaubt, die Mittagsruhe geht bis drei Uhr, war auch bis drei Uhr. Nur: Nach drei Uhr kriegte man die Fresse dann auch nicht auf. Da hingen wir auch nur rum. Das einzige Mal war, daß wir zwischendurch mal - ich weiß nicht, ob das nur am Wochenende war - Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiele gekriegt haben. Da hast du zwangsläufig Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt, obwohl man keinen großen Spaß daran hatte. Es war wenigstens etwas. Spielerei war da nicht großartig. Die Spielklamotten, die wir da hatten, kriegten wir nur, wenn Affenshows abgezogen wurden. Danach wurden die Klamotten wieder eingeschlossen. Im Prinzip war der ganze Nachmittag Scheiße. Was machte man um drei Uhr? Da saß man auch nur rum. Im Prinzip hat sich die Mittagsruhe bis fünf Uhr hingezogen, und dann war Feierabend. Dann wurde gegessen, und ab ins Bett.

Im Prinzip hat der Tag nur aus Unterricht bestanden …?

Nur vormittags Unterricht, und das war ja kaum Unterricht, kann man nicht so bezeichnen. Das war nichts weiter als eine Qual. Wenn man mal fragte, ob man nicht mal andere Bücher haben konnte. Nein, wir nehmen das noch mal neu durch. Das war gang und gäbe. Gott sei Dank hat der Direktor dann einen Test gemacht. Der ist bei zwei Leuten gut ausgefallen, obwohl wir nichts anderes kannten außer i und o. Aber beim K. lernte man was, auch wenn es da unter Streß ging. Er war ja auch sehr streng. Nur mit dem Unterschied: Er hat uns was beigebracht.

Die humanste von allen Lehrerinnen war Frau K. Die hat das, was sie gepredigt hat - es war mir unangenehm, die hat mich mal auf den Schoß genommen und gesagt: So ist das mal irgendwann, wenn ihr bei Jesus seid … Mir war das ein bißchen unheimlich. Aber mir war das bewußt, weil sie uns auch zu Hause eingeladen hat. Die hatte Kaffee und Kuchen gemacht. Sie hat dafür gesorgt, daß in der Baptistenkirche sich ein paar Leute um einen gekümmert haben. Wenn es auch nur sehr kurz war, aber es war wenigstens was. Bis heute hege ich wenn auch nicht regelmäßigen Kontakt, aber ab und zu …

Welche Erinnerungen hast du an die diakonischen Helferinnen und Helfer?

Von den Diakonschülern habe ich kennengelernt Herrn Weber - Bruder Weber nannte man den -, Bruder Krömer, später Bruder Flügge. Ich habe aber persönlich eigentlich nur den Weber und Krömer kennengelernt. Mit denen habe ich nichts Schlechtes erlebt. Ich habe ja nicht bei denen, sondern bei Schwester A. gelegen. Bei Krömer war eine Abwechslung: Einmal haben wir einen Ausflug gemacht. Da ist der Krömer mitgefahren. Da habe ich keine Schlechtigkeiten in Erinnerung. Im Gegenteil: Es war schön, daß da mal eine fremde Person dabei war. Das ist etwas Besonderes gewesen.

Auch im Hermann-Luisen-Haus hattest du ständig die Mitarbeiter am Hals. Du hattest nie Ruhe vor denen, egal, was das für einer war, ob die streng waren oder nicht. Am Wochenende, Ferienzeiten - immer wieder dieselben Typen. Daß einem da der Kragen platzt, ist ja wohl selbstverständlich, zumal die auch streng waren. Du hast nur so duckmäuserisch versucht, irgendwas zu machen, damit du nichts kriegtest. Aber man hat immer das Gefühl gehabt, daß man irgendwas verkehrt macht. Bei Krömer war ich froh, daß der ab und zu bei uns auf der Kinderstation war.

Der Weber war damals der erste Diakon, der einen Fernseher hatte. Der muß wohl reiche Eltern gehabt haben. Wer zu der Zeit ein Fernsehgerät hatte … Dann gab es früher noch diese sogenannte Frauenstation. Das war mir manchmal unangenehm - warum, weiß ich bis heute nicht -, wenn die alten Frauen einen auf den Schoß genommen haben. Die wollten sicherlich etwas Gutes, aber vielleicht hat man immer gedacht, da kommt sowieso nur Mist bei herum. Ich hatte einen Ekel an alten Frauen. Ich fand es unangenehm, wenn einen die Weiber auf den Schoß nahmen.

Ich weiß noch, wie mich meine Mutter mal besucht hat. Ans Martineum grenzte ein Mischwald. Als mich meiner Mutter mal besuchte, saßen wir da in dem Wald, da flossen auch überall Quellen. Ich werde nie vergessen: Allein wenn mir meine Mutter mal einen Kuß gegeben hat, das war für mich ekelhaft. Einmal hat sie mir ein Bonbon gegeben, das sie aus ihrem Mund herausgeholt hat und mir hereingeschoben hat. Das war für mich so eine ekelhafte Angelegenheit. Es kann sein, weil mir meine Mutter auch keine Liebe entgegengebracht hat. Vielleicht hatte ich deshalb das Gefühl, alle Frauen sind schlecht. Keine Ahnung, weiß ich nicht. Man kannte ja überwiegend nur schlechte Sachen. Es gab kaum was Gutes. Das muß man einfach sagen. Das kann heute keiner verstehen. Solche ekelhaften Zeiten haben viele Leute nicht mitgemacht. Das sind ja fast schon Halbtote, die das mitgemacht haben.

Die Freizeitgestaltung am Samstag und Sonntag, da hat ja nun gar kein Unterricht stattgefunden …

Es hat nichts gegeben, wo man sich drüber freuen konnte. Die Ulrike kriegte auch Besuch ab und zu von einer gewissen Tante Herta. Das war nicht die richtige Tante, aber die hat sich um sie gekümmert. Wie das zustande kam, weiß ich nicht. Die hat mich ein oder zwei Mal in der ganzen Kinderzeit ins Café eingeladen. Die hat mir sogar eine Spardose zum Drehen geschenkt. Da kommt ein Rabe heraus, und der nimmt dann einen Groschen weg. Darüber habe ich mich sehr gefreut. Irgendwann hat mir diese Tante Herta diese Spardose geschenkt. Allerdings war die auch nur bei Schwester Anna auf dem Zimmer. Ich habe die ein, zwei Mal in der Hand gehabt.

Zunächst mal konnte ich gar nicht mit Geld umgehen. Ich wußte gar nicht, was das ist. Ich wußte, daß das ein Wertgegenstand ist. Aber was? Weil wir das da oben (im Kopf) ja nie gelernt haben. Dann hat sie mir das gezeigt. Das war natürlich sehr schön für mich, wie die dann da so kurbelte und den Groschen da unten rausnahm. Dann hat sie mir ab und zu einen Groschen geschenkt, und dann war ich glücklich.

Irgendwann haben wir mal Blinde-Kuh gespielt mit Klaus-Dieter K.. Viele Leute behaupten ja immer, Dicksein kommt von der Fresserei. Da muß ich entschieden dagegen sprechen, weil wir auf der Kinderstation immer reichlich zu essen hatten. Wir haben nie Kohldampf geschoben. Das Essen war meistens nur Scheiße, wenn ich das mal so sagen darf. Wir haben alle die gleiche Menge gekriegt. Da wurde keiner bevorzugt. Und da war einer, Klaus-Dieter K. Das war ein dicker Mensch, wie er im Bilderbuch steht, dick, es schwabbelte alles an ihm herum. Der hatte beide Beine ab, hatte allerdings noch Unterschenkel. Daher konnte der auch gut laufen. Das war zwar mehr Watscheln, das aber wegen seinem Gewicht. Es kann sein, daß das Fettsein in der Familie liegt. Sein Vater war auch nicht gerade der Dünnste. Seine Mutter war klein und gedrungen.

Sein Vater hatte mitgekriegt, wie ich diese Spardose in der Hand hatte. Da hat er gesagt: "Hier, Junge, hast du mal einen Groschen." Irgendwann haben wir mal Blinde-Kuh gespielt. Wir hatten damals so Gitterbetten. Das war früher in den Heimen so, nicht so wie heute mit schönen Betten. Aber es hat auch nicht großartig gejuckt. Dieses Blinde-Kuh-Spielen machte sehr viel Spaß. Da bin ich mal ganz gehörig vor eine Bettkante geknallt. Mir tat die Nase weh. Dann hat er mir das Ding weggenommen und hat versucht, mich zu trösten. Und das versuchte er erst mit Geld. Da schlug mein Herz bald Purzelbaum, obwohl ich gar keine Ahnung hatte, was Geld bedeutete. Es war nur schön für mich, wie der Rabe das in die Spardose hineindrehte. Ich sage: "Nein, will ich nicht." - Und der fragte: "Warum nicht?" Und ich: "Sag ich nicht." Dann habe ich gesagt: "Der Dicke hat gesagt, ich würde bei ihm betteln." Dann hat der mir den Groschen gegeben und ging zu seinem Sohn - das wollte ich nicht - und hat dem links und rechts eins in die Schnauze gehauen. Da schlug mein Herz Purzelbaum. Ich weiß nicht, ob ich damals so sadistisch veranlagt war. Aber es war wahrscheinlich wegen dem Groschen. Und ich muß noch mal sagen: Ich hatte gar keine Ahnung, was Geld ist. Aber die Groschen glänzten auch immer so schön. Wenn meine Tante ein paar Groschen für mich übrig hatte, die hat das Geld vorher immer poliert in der Hoffnung, daß ich es nicht ausgebe, sondern spare, weil ich es so schön fand, daß das so glänzte. Die hat das wirklich poliert; das hat sie mir mal erzählt.

Zurück zur Frage der Freizeitgestaltung samstags und sonntags. Habt ihr denn da …

Es gab da nichts besonderes. Es war immer stilles und stummes Sitzen. Ab und zu mal Mensch-ärgere-dich-nicht spielen, und Schwarzer Peter gab es auch noch. Mehr nicht. Maumau habe ich erst viel später kennen gelernt.

Konntet ihr da aus dem Haus?

Nein, nicht allein. Das mit dem Sandkasten habe ich dir erzählt. Da haben sie die anderen Kinder hochgebracht, und ich saß noch unten am Sandkasten, habe mal nicht aufgepaßt, hatte meine Hand im Sandkasten und einen Spaten unter dem Arm, haute mir dann selbst den Spaten auf den Finger. Erst im Hermann-Luisen-Haus konnten wir frei herumlaufen, ohne daß die Leute Angst kriegten, wir laufen weg.

Zum Hermann-Luisen-Haus kommen wir im nächsten Kapitel. Vom wievielten bis zum wievielten Schuljahr hast du es geschafft?

Ich muß dir ehrlich sagen: Richtig eingeschult wurde ich erst im elften Lebensjahr, aber nicht mehr mit so einer Fibel, wie es bei Frau H. war. Erst beim K. wurde es besser. Und Beim K. habe ich nur ein, zwei Schuljahre gehabt. Und dann kam später Frau K.. Da habe ich sogar zwei, drei Klassen übersprungen, weil ich so gut war. Aber bei ihr hatte ich auch nie Streß, nie. Beim K. schon, obwohl der K. der humanste Lehrer war.

Aber bei der (K.) hatte ich nie Streß. Streß muß man sich auch nicht so vorstellen wie heute. Streß war, als wenn du ständig die Luft anhältst und versuchst und versuchst, sie einzuhalten. Das Gefühl ist das. Das können sich die Leute gar nicht mehr vorstellen. Heute sagt man bei jeder Kleinigkeit, man hat Streß, obwohl das kein richtiger Streß ist. Bei der habe ich zwei, drei Klassen übersprungen, weil ich ziemlich gut war. Ich habe bei der besser gelernt, weil es bei der keinen Streß gab. Bei der habe ich nie Angst gehabt. Die hat auch nicht geprügelt, keine Ohrfeigen gegeben, gar nichts.

Wann war das in etwa, als du aus dem Johanna-Helenen-Heim …

Das war so 1960/61.

Königsberger Schwester Anna

Selbst behindert und doch gewalttätig: Lehrerin H. von der “Kleinenstation”

In welches Haus kamst du dann?

In ein Lehrlingsheim, wo eine Kinderstation eingerichtet wurde, weil es die Anstalt vorgezogen hat, erst die Martinskirche bauen zu lassen, statt die Oberlehnschule. Die Martinskirche kostete seinerzeit 4 Millionen. Unser erster Schulrektor, also Schulleiter - wir hatten vorher keine Leiter oder Rektoren -, war Herr K. Der ist dann auch gegangen, weil sie erst die Kirche gebaut haben statt die Schule.

Dieser Mann war auch ein strenger Lehrer. Wenn wir nicht gekämmt oder irgendwie nicht bei der Sache waren, hat er sich von hinten herangeschlichen - das war keine Boshaftigkeit - und hat uns mit dem Daumen einen Scheitel gezogen. Wir hatten bei ihm Strafarbeiten aufgekriegt, was ich vorher gar nicht kannte. Wenn wir unsere Schularbeiten nicht richtig gemacht hatten oder übermäßig Fehler hatten, drei Mal. Ich war ja sehr schlecht im Schreiben und bin es bis heute noch, weil ich zu zitterig bin und man meine Schrift nicht lesen kann … Es gibt es ja Alkohol, um die Zittrigkeit wegzukriegen.Das konnte ich als Kind ja schlecht machen. Jedenfalls zog er einen Scheitel. Wenn wir beim dritten Mal das nicht erledigt hatten, gab es mit dem Rohrstöckchen eins drauf. Das war regelmäßig. Jedes Mal, wenn einer beim dritten Mal seine Strafarbeit nicht gemacht hatte, gab es von da ab Prügel. Wenn nach diesem Tag wieder nichts gelaufen ist, wurde die Prügel auf drei Stockhiebe ausgedehnt, die Schularbeiten genauso. Ich, der sehr schlecht schreiben konnte, habe es besonders schwer gehabt. Es gab jedenfalls Prügel mit dem Rohrstock. Da war mal einer, der hatte mit Absicht die Schularbeiten nicht gemacht. Der hat jedes Mal Prügel gekriegt. Irgendwann hat der sich ein Brett in die Hose gepackt. Da ist der Stock quer durch gespalten, er hat also zwei Stöcke in der Hand gehabt. Da hat er ihn erst mal aufs Zimmer geschickt, Hose runter, Brett raus. Von da an hat er jeden, dem er einen auf den Arsch gegeben hat, bevor er geprügelt hat, in den Arsch gekniffen, nicht so, daß es weh tat, aber daß er feststellen konnte, er war nicht abgepolstert.

Seine menschliche Seite war die, daß man nicht so sehr unter Streß war. Er hat ja auch bewiesen, daß er für uns was übrig hatte. Er ist mit uns spazieren gegangen. Bei Kindern, die kein Zuhause hatten oder die ein schlechtes Zuhause hatten, ist er in der Sommerzeit gekommen und hat mit denen Spaziergänge gemacht, hat seine Tochter und seine Frau mitgenommen, und dann sind wir durch den „Schwarzen Weg“ oder bei ihm zu Hause, Kaffee und Kuchen. Daran konnte man sehen, daß er kein Unmensch war. (Obwohl diese Erlebnisse mit Rektor K. wiederholt geschildert wurden, habe ich diese Wiederholung nicht gestrichen, um zu verdeutlichen, daß es sich hier um prägende und um unvergessene Erlebnisse gehandelt hat.)

Prügelstrafen waren überall an der Tagesordnung zu der Zeit. Aber das war meistens Willkür ohne Ende bei den anderen (Lehrerinnen und Schwestern). Wir kriegten da auch zum ersten Mal Zeugnisse, was vorher gar nicht war. Man konnte bei ihm lernen, andere Bücher. Wenn das Schuljahr um war, kriegten wir wieder andere Schulbücher, was im Johanna-Helenen-Heim absolut nicht der Fall war. Wie gesagt, daran konnte man feststellen - das habe ich damals schon gemerkt -, daß er nicht ganz so schlecht war. Also man hat bei ihm nicht ständig Angst gehabt. Das war nur dann, wenn wir die Schularbeiten nicht gemacht hatten.

Was noch hinzukam: Wenn wir was besonders gut gemacht hatten, hat er uns dafür ausgezeichnet. Er hat für uns Briefmarken gesammelt, nicht nur die billigen. Ich hatte seinerzeit sogar Helvetia-Marken, für die du heute ein Schweinegeld kriegst. Ich habe damals gesammelt, weil die anderen das auch gemacht haben. Wie das als Kind so ist. Ich habe die so richtig schön eingeordnet. Das sah so schön aus, da habe ich das auch angefangen, obwohl ich von Briefmarken nicht viel Ahnung hatte. Er hat uns ab und zu auch mal Geld gegeben, wenn wir in der Schule besonders gut gewesen sind. Bei dem konnte man sehen, er hat sich Mühe gegeben. Auch wenn es bei ihm Prügel gab, er hat sich Mühe gegeben.

Und Prügel haben die anderen auch gegeben, die Diakone. Seinerzeit war es so: Wir hatten nie Ruhe vor den Diakonen, egal, ob das einer war, den man leiden konnte oder den man nicht leiden konnte, der ziemlich streng war. Die haben bei uns auf der Station gewohnt. Auf der Kinderstation (HLH) war man immer ein bißchen streng. Wir durften als erstes allein raus, ohne daß ein Mitarbeiter uns hinterherschlawenzelte. Wir durften von Anfang an, ohne irgendwas zu sagen, rausgehen, bis zur Ruhezeit ab fünf Uhr. Da mußten wir im Haus sein. Mehr war das nicht. Und das war wunderbar.

Was es noch gab? Wir mußten zum ersten Mal auf der Kinderstation (HLH) keine gebrauchten Sachen tragen. Wir konnten uns für 15 Mark etwas wünschen. Ich weiß noch genau, was ich damals alles hatte. Mit uns wurde richtig Geburtstag gefeiert. Wir kriegten im Johanna-Helenen-Heim zwar auch Körbe, aber das war mehr zum Anschauen. Im Hermann-Luise-Haus kriegte man schon was. Da war ein Geburtstag irgendwas Besonderes. Wir durften uns zum ersten Mal zu Weihnachten was wünschen für 15 Mark, also keine gebrauchten Sachen, was mich nicht sonderlich gestört hat. Aber es war schön, daß man sich was aussuchen konnte. Herr G. (Heimleiter des Hermann-Luisen-Haus), der auch sehr streng war, kam damals immer mit uns Schmusen. Der streichelte uns. Das einzige, was unangenehm war, war sein Bart, der immer kratzte. Aber das war ja keine Absicht. Er versuchte, väterlich zu sein.

Vorhin hattest du erzählt, geschlagen wurdet ihr auch von den Diakonen.

Genau.

Waren das Ausgebildete?

Nein, die waren alle nicht ausgebildet. Das waren alles Diakonschüler.

Und warum haben die euch geschlagen?

Vielleicht weil wir frech waren. Ich kann ein Beispiel geben. Auf der Kinderstation spielten die, die Fußball spielen konnten, auch sogar Rollstuhlfahrer - die versuchten es notfalls mit der Faust. Wir hatten eine Putzfrau angrenzend an der Kinderstation. Erst kam ein Kinderzimmer und dahinter wohnten die Diakone. Das war alles auf einem Flur. Wir haben Fußball gespielt. Und Frau H. M. - das war eine Putzfrau, die da gewohnt hat - hörte, obwohl sie Doppeltüren hatte, den Krach, und das fiel ihr auf die Nerven. Heute würde ich sagen: Ich kann es verstehen. Aber Kinder sind lebhaft und empfinden das nicht als störend, weil sie gerade spielen. Die hat sich öfter beklagt, und Herr F. - das war mein Lieblingsdiakon, den ich von allen am liebsten mochte; das war das erste Mal, daß ich einen Diakon leiden konnte - hat das so gesehen, daß Kinder auch mal spielen und sich austoben müssen. Wenn man so darüber nachdenkt, kann einen das schon anrühren, daß es solche Leute gab, die wirklich human waren. Der kam dann zu uns und sagte: "Kinder, bitte nicht bei Frau M. an der Tür." Und dann haben wir, weil die sich beschwert hatte, mit Absicht einen Ball vor die Tür geschmissen. Dann kam der F. und hat den Walter E. mit seinem Holzlatschen versohlt. Der war sogar so zugange, daß gegen den sogar eine Anzeige erstattet werden sollte, weil der den Latschen richtig auf dem Arsch abgebildet hatte. Ich habe es selbst gesehen.

Aber man muß wirklich sagen: Zum Beispiel der E., der damals auch bei uns war, wenn der uns geschlagen hatte, kam er grundsätzlich abends an unser Bett - also um fünf Uhr, wenn wir ins Bett mußten - und schmuste mit einem, weil ihm das Leid tat - das hat er einem auch gesagt -, daß er uns geschlagen hat. Das war oberstes Prinzip, das konnte er nicht haben. Also muß ich davon ausgehen: Bei dem war keine Willkür, während das bei anderen immer Willkür gewesen ist. Du konntest sehen, der hat nicht geschlagen, weil es so sein mußte, sondern der hatte Erziehung.

Wie hießen denn die anderen?

Die Diakone, die ich kennen gelernt habe: Der erste war E., der zweite war, glaube ich, F., und dann kam H. Und die anderen sind nur ab und zu zur Vertretung hoch gekommen, wenn kein Diakon da war.

Im Hermann-Luisen-Haus hattest du Freiheit. Du konntest gehen. Du mußtest aber deine Zeit einhalten. Keiner hat hinter dir hergeschnüffelt. Niemand hat dir den Ausgang verboten, außer wenn wir mal zu frech waren. Oder wenn du dauernd zu spät kamst. Dann kam es schon mal vor, daß du drei Tage nicht raus durftest. Aber ansonsten war das das erste Mal Freiheit.

Zweitens gab es Essen, das ich vorher nie kannte. Ich kannte keine Bratwürstchen, ich kannte keine Koteletts; die anderen auch nicht. Würstchen gab es öfters. Da gab es auch andere Suppen, die ich vorher nicht kannte. Gemüsesorten kannte ich nicht. Hähnchen habe ich erst viel später kennengelernt. Das war da also freier.

Und in der Schule war das manchmal auch stressig, aber nicht so. Bei dem anderen Streß, den man bei der J. bei der H. und bei der St. hatte, konntest du auch gar nicht lernen, weil du immer ein gedrungenes Gefühl hattest. Ich kann das nicht anders beschreiben. Du mußt dir vorstellen: Du hältst so die Luft an und bist am Pressen. So ein Gefühl, so ein Streß ist das gewesen. Anders kann ich das nicht beschreiben. Das war im Hermann-Luisen-Haus so gut wie gar nicht. Da war das schon lockerer. Du konntest Schularbeiten machen und warst nicht mehr unter einem solchen Streß, wie das im Johanna-Helenen-Heim war. Du hast zwar auch Prügel gekriegt; ich habe ja schon erwähnt, daß der K. das gemacht hat. Man muß aber sagen, daß der K., der erste Rektor, sich Mühe gegeben hat. Der ist nur, wie gesagt, gegangen, weil erst Martinskirche usw.

Und Bruder F.?

Das war mein Lieblingsdiakon. Von dem habe ich auch Ohrfeigen gekriegt, vom H. und von dem davor auch. Nur mit dem Unterschied: Man konnte sehen, daß das keine Gemeinheit waren.

Hat es denn auch Diakonenschüler gegeben, die aus Brutalität zugehauen haben?

Ich habe - muß ich ehrlich sagen - keine Diakone kennen gelernt … Ich war immer froh, wenn ich weg war. Ich habe in meiner Zeit das auch ausgenutzt, immer auszureißen. Das hat aber nicht nur damit zu tun, daß du immer dieselben Leute gesehen hast. Unter uns Kindern gab es ja auch dauernd Streit. Das ist logisch, vor allen Dingen, wenn du da mit zig Leuten … Da zieht einer über den anderen her. Da war es ja auch so, daß sich Kinder untereinander erpreßt haben: Wenn ich deinen Pudding nicht kriege, ist das und das los. Ich will mal ein Beispiel sagen; diese Ekeligkeiten konntest du im Johanna-Helenen-Heim gar nicht feststellen, weil wir alle viel zu ängstlich waren. Wir waren kaum böse gegeneinander. Wenn wir "doof" sagten, kriegten wir ja damals schon eins auf die Klappe. Nicht zu den Erwachsenen, sondern zu den Mitinsassen. Im Hermann-Luisen-Haus war das nicht mehr der Fall. Das mochten die auch nicht, daß man so was macht. Aber na ja, das war da nicht mehr so schlimm. Da fingen Kinder an, den anderen zu erpressen, gingen auf die Schwächeren los. Ich weiß noch, einer hat immer nur geduckmäusert. Das war damals der René U. Jedes Mal, wenn es Pudding gab, also das Leckerste, wurden die erpreßt, den Pudding herzugeben. Es waren drei Leute, die ganz rigoros mit den anderen umgegangen sind. Heute nennt man das Mobbing. So ungefähr war das da auch.

Drei besonders brutale Kinder haben …

Ich habe mich immer geärgert über den, weil der nie die Klappe aufgerissen hat. Das war René U. Der wurde ständig unter Beschuß genommen. Den haben sie ständig erpreßt, den Pudding abzugeben. Einmal komme ich in das Zimmer - ich wohnte nicht auf diesem Sechs-Bett-Zimmer -, da sehe ich, wie Achim K. und Hans Sch. - das war auch so ein gemeines Schwein - dem die Hose runtergerissen haben. Ich stand in der Tür und dachte: Das kann ich nicht glauben. Jetzt kommt der Hammer: Da haben sie dessen Pimmel genommen. Und er fing - aber nur aus Angst - zu lachen an. Ich kriegte meine Augen nicht mehr zu und dachte: Was ist das denn? Da hat der Achim auf die Uhu-Tube gedrückt und auf den Pillermann das Uhu laufen lassen. Da habe ich mir im Stillen gedacht, weil der ja gelacht hat: Hoffentlich wird der gleich schreien wie ein Schwein. Weil der sich nie gewehrt hat. Der hatte immer nur Angst, der hat niemals opponiert. Und der hat geschrieen wie ein Schwein. Da habe ich gedacht: Das hat der verdient. Der soll endlich lernen, sich zu wehren.

Und der Achim K. hat das bei mir auch mal probiert, hat mir die Briefmarken geklaut. Ich denke: Was ist denn da am Nachtschrank? Das gibt's doch gar nicht. Da habe ich den zur Rede gestellt. Ich hatte auch Angst; so ist das nicht. Aber ich habe mich trotzdem gewehrt. Da hat der mir mit seiner dicken Faust eins in die Schnauze genauen. Ich habe darauf bestanden, daß er mir die Briefmarken wiedergibt. Mehr hatte ich ja nicht. Was hatten wir als Kinder? Das Spielzeug war ja schnell zerschlissen, wie das bei Kindern so ist. Man macht schnell was kaputt, ohne daß man es will. Aber der hat es auch bei mir probiert, und ich habe mir das nicht bieten lassen. Da hatte der schlechte Karten.

Weil das da so ekelhaft zuging und ohnehin immer Scheiße war, habe ich mich jeden Tag, seitdem ich den Bauernhof "Grunewald" kennengelernt habe … Das war der erste Ausflug den wir im Hermann-Luisen-Haus mit dem Rektor K. gemacht haben. Von da an bin ich auch mal sonntags dahingegangen und wollte mal gucken. Ich hatte schon so eine Ahnung, daß da irgendwas nicht stimmt. So nach dem Motto: Die zeigen uns nur die heile Welt und weiter nichts. Da bin ich sonntags auf den Bauernhof gegangen und habe mich umgeguckt. Und da war eine Tür, in die du nicht rein kannst, die sogenannte verbotene Tür. Da habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gesehen, wie dreckig Tiere behandelt worden sind. Stockdunkel, nur eine Rotlichtlampe an. Draußen war das herrlichste Wetter. Aber die armen Schweine … Da habe ich zum ersten Mal Tierelend gesehen. Seitdem bin ich immer heimlich gegangen und habe geguckt, ob es da auch mit rechten Dingen zugegangen ist.

1964 waren wir in Holland. Zu der Zeit war Herr F. Schulrektor gewesen, nach Herrn K. Der (Leiter des holländischen Freizeitheimes) hatte den Lehrern angeboten: Wenn da ein paar Kinder bei sind, die kein Elternhaus haben oder ein schlechtes Elternhaus haben, wollen sie (Leiter und Ehefrau) sich um die kümmern - was die dann ja auch Jahre getan haben. Unter anderem habe ich da zum ersten Mal eine Hühnerfarm kennengelernt, auch so grauenhaft wie die ganze Anstalt ist. Unten Bodenhaltung, aber die kriegen per Nietpistolen oben solche Brillen angepaßt, aber nicht zum Gucken, wie das bei uns Menschen so üblich ist, sondern damit die nichts sehen. Picken tun sie sowieso nach unten, wenn man was essen will. Ich war mehrere Male eingeladen und habe da unter anderem auch andere Hühnerfarmen kennengelernt, wo sich die Hühner gegenseitig die Köpfe eingeschissen haben. Das haben die nicht mit Absicht gemacht, sondern weil die so eingesperrt waren, konnte keiner dem anderen entweichen. Von da ab fing mein Leben an, sich zu verbessern, von der Schönheit her.

Schildere noch dein Umfeld: Erst war K. Aber hattest du andere?

Ja. Frau Sch. und Frau K. und Frau W. - das war auch eine ziemlich strenge. Daß sie geschlagen hätte, daran kann ich mich nicht erinnern. Aber ihre Art und Weise, mit uns umzugehen, war nicht sonderlich schön. Auch Frau P. war nicht gerade sonderlich. Gut, die hat uns nicht geschlagen. Aber mit ihr hatte man auch keine Freude. Dann hatten wir noch eine Frau M. Da habe ich zum ersten Mal … Die kletterte oben auf dem Schrank und bückte sich. Da habe ich zum ersten Mal den Himmel gesehen, nämlich ihre Brüste. Ich hatte noch nie eine nackte Brust gesehen.

Wie alt warst du da?

So elf, zwölf Jahre. Ich bin da mit ungefähr zehn Jahren hingekommen.

Und du hattest ja nie Gelegenheit, das weibliche Geschlecht kennenzulernen.

Genau. Auch nicht durch Zeitschriften. Jedenfalls habe ich da zum ersten Mal den Himmel gesehen. Ich meine damit die Brüste. Übrigens: Da war nichts so wie im Johanna-Helenen-Heim, betreffend Sexualität oder so.

Kann ich denn sagen: "Die Lehrer waren streng, aber du hast nicht die Angst gehabt"?

Bei denen weiß ich genau, wie mein Gefühl dazu war. Es war kein Streß in dem Sinne, abgesehen du hattest die Schularbeiten nicht gemacht und kriegtest Prügel. Alles andere war leichter zu ertragen. Das Leben war nicht mehr unter Druck und Streß. Angst usw. war da eigentlich vorbei, abgesehen davon, daß ich Angst vor dem Nikolaus hatte.

Grundsätzlich habe ich jedes Mal so eine Angst vor dem Nikolaus gehabt, weil ich nie was Gutes von ihm kennengelernt habe. Auch im Hermann-Luisen-Haus hatte ich Angst, obwohl es harmlos war. Trotzdem hatte ich immer Angst. Schon allein dieser rote Mantel und der Bart und wie die so krumm gelaufen sind. Das war immer mit Angst verbunden. Ich habe immer drei, vier Tage ins Bett gepinkelt. Das war immer einen Tag vor dem Nikolaus, also am 5. oder 4., und am 7. Diese drei, vier Tage habe ich grundsätzlich ins Bett gepinkelt. Kriegte am nächsten Tag natürlich immer einen auf den Deckel. Und irgendwann habe ich mir mal eine Urinflasche geklaut und zwischen die Beine gelegt. Ich hatte nachts Angst, mich zu bewegen. Ich hatte immer Angst, „wenn der jetzt im Dunkeln reinkommt, du kannst dich nicht wehren“. Und was war? Die Urinflasche ist umgekippt, weil man sich nachts ja bewegt, zumal ich auch wackele. Und wieder war das Bett naß. Wieder Theater. Im Jahr darauf habe ich überlegt: Was machst du jetzt? Dann habe ich meine Nachbarin gefragt, ob sie mir einen Tornister gibt. Ich habe ihr natürlich nicht gesagt, wofür ich den Tornister mißbrauche, nämlich für die Pinkelpulle. Das war ein stabiler Tornister. Dann habe ich in den Tornister die Pinkelpulle reingestellt. Da das Material so fest und so eng war, konnte die Pinkelpulle nicht umkippen. Das war das erste Mal, daß ich trocken war durch diese Hilfe. Ich habe bis zum 13., 14. Lebensjahr ins Bett gepinkelt, aber nur wenn Nikolaus war. Seitdem ich das mit dem Tornister einmal gemacht habe, war es das erste Mal, daß ich trocken war. Die Mitarbeiter wußten das natürlich nicht, ich habe das alles immer heimlich gemacht. Von da an habe ich nie wieder ins Bett gepinkelt. Da war ich davon befreit.

Es gab also keinen Ärger im Hermann-Luisen-Haus. Wie gesagt, da kriegte man auch Prügel. Aber man konnte als Kind schon fühlen, daß das keine Willkür war. Der erste, dem es tatsächlich Leid tat, war der E. Der kam um fünf Uhr, wenn wir im Bett waren, mit einem schmusen, dem er eine Ohrfeige verpaßt hatte. Man konnte also sehen, daß ihm das Leid tat. Das war das Humanste, was es jemals in der Anstalt gegeben hat.

Damit da kein falscher Eindruck entsteht, -wie hat dieses Schmusen ausgesehen?

Keine Sorge, nichts mit Sexualität. Der hat einen nur in den Arm genommen, hat das Gesicht gestreichelt. Er hat auch gesagt, daß es ihm sehr Leid tut. E. war da vorbildlich. Das hat F. nicht gemacht, obwohl er mein Lieblingsdiakon war.

War das da das erste Mal, daß dich einer in den Arm genommen hat?

Von den Mitarbeitern? Nein, das hat G. auch gemacht. Der war auch ein sehr strenger. Von dem kriegtest du auch Ohrfeigen ohne Ende. Das war der Hausleiter vom Hermann-Luisen-Haus. Man muß aber eins wissen: Er wird wohl auch eine strenge Schule besucht haben und gab das weiter und hat, glaube ich, auch geglaubt, daß das das Richtige war. Bei ihm war keine Willkür; sonst hätte der uns abends nicht in die Arme genommen. Man ist das ja nicht gewohnt gewesen, daß man in den Arm genommen wurde. Ich weiß nicht, wie ich das sagen soll. Das war manchmal unangenehm. Aber eins hat man gemerkt: Die wollten, daß es einem auch gut geht. Das war bei den anderen ja nun nicht.

Ich weiß noch genau: Einmal waren wir so frech, und G. war so sauer, daß er gesagt hat: Euch drücke ich nicht mehr. Mein erster Diebstahl waren Zigaretten. Ich wollte nur einmal probieren zu rauchen. Die Lehrlinge rauchten teilweise. Wir waren auf der Kinderstation. Am Wochenende sind Kutschewski und ich - elf Jahre alt - bei den Lehrlingen aufs Zimmer gegangen. Die Zimmer waren damals noch nicht zum Abschließen. Wir sind an deren Nachtschränke gegangen - da lagen manchmal dicke Portemonnaies; die haben wir an die Seite gelegt, haben keinen Groschen geklaut -, nur um mal zu wissen, wie es mit der Zigarette ist. Dann sind wir in den Keller gegangen, sind dort vom Heizer erwischt worden. Damals wußte ich nicht, was Lungenzug ist. Da habe ich den Qualm heruntergeschluckt. Auf einmal kam der dicke Alfred und hat uns gleich verpfiffen. Ich weiß nicht, ob der ein Telefon hatte. Jedenfalls wollten wir ausreißen. Ich habe aber gedacht, das nutzt nichts, wenn wir ausreißen, die kriegen uns wieder. Dann sind wir raus. G. hat uns schon von weitem gesehen: „Kommt ihr mal rauf.“ Grundsätzlich nahm uns G. erst mal so in die Arme, aber nicht zum Liebhaben. Er hat den Kopf von da nach hier geschaukelt. Dann fing er an zu streicheln, und nach dem Streicheln kriegten wir volle Pulle eins in die Fresse. Wenn G. uns in die Arme nahm, wußte ich: Jetzt geht es los, dann kriegt man eins in die Schnauze.

Jetzt kannst du noch all die Dinge erzählen, die gut waren, aber auch schlecht waren und die im Zusammenhang mit dem Hermann-Luisen-Haus stehen.

Wir hatten zunächst mal Freiheit, freien Ausgang ohne Kontrolle. Wir hatten zum ersten Mal Taschengeld. Seinerzeit waren das zwölf Mark. Wir hatten zum ersten Mal Weihnachtsgeschenke kaufen dürfen. Das waren nagelneue Sachen, die wir haben konnten. Zu essen gab es Sachen, die ich vorher gar nicht kannte. Dann hatten wir im Hermann-Luisen-Haus zum ersten Mal einen Ausflug nach Amrum. Das hatten wir vorher auch nie. Wir sind nie aus der Anstalt herausgekommen. Dann war „De Pieterberg“. Das war am allerschönsten. Die haben uns für längere Zeit ein Zuhause gegeben. Da war es wirklich schön.

Dann erzähl doch mal was von Amrum.

Zum ersten Mal außerhalb der Anstalt für vier Wochen, wenn ich mich recht erinnere. Das war unter der Leitung von Frau Sch. War teilweise sehr schön. Die Insel war für mich was Besonderes. Ich würde das heute gerne noch mal riechen, mit dem Salzwasser und den Muscheln.

Das zweite Mal außerhalb der Anstalt war „De Pieterberg“. Das war 1964 kurz vor meiner Konfirmation. Das war alles sehr schön. Die haben sich gut um uns gekümmert. Irgendwann haben sie während der Schulzeit die Lehrer mal gefragt: Sind auch Kinder darunter, die kein Zuhause haben oder um die sich die Eltern nicht kümmern? Dann wurden ein paar aufgezählt. Das waren du, Friedhelm und ich. Ich bin dann ja regelmäßig dahin gefahren. Wir sind da unentgeltlich in der Ferienzeit aufgenommen worden, Ostern, Pfingsten, Herbst und Weihnachten. Das war regelmäßig. Das hat der (Pardoen) nie seingelassen, bis er gestorben ist. Das war eigentlich die schönste Zeit, und später auf dem Ponyhof.

Hattest du das Gefühl, das Herr Pardoen väterlich zu dir war?

Auf jeden Fall. Vor allem werde ich nie vergessen, wenn er zum Friseur gefahren ist. Dann hat er sich auch rasieren lassen. Und er hat sich einen Spaß daraus gemacht, zu sagen: „Rasieren sie  den Jungen auch mal.“ Mich rasieren! Meine Haare wuchsen erst mit dem 20. Lebensjahr. Herr Pardoen- das war schon was. Ich konnte mit in seine Familie, nicht nur die Leute, die er besucht hat, sondern auch … Pardoen habe ich Herr Pardoen genannt, Frau Pardoen Frau Pardoen, und bei den anderen war ich ziemlich anhänglich, Tante Tini, Onkel Henk, Tante Mieke, Onkel Gerd usw. Die habe ich also Onkel und Tante genannt.

Damals haben wir eine Grachtenfahrt gemacht. Das Boot sah aus wie ein Bus. Da fing das an. Als Kind klammertest du dich an die Leute, von denen du nichts Schlechtes kanntest. Und die waren mir immer gut gesonnen. Da wurde ich so anhänglich, habe immer Händchen gehalten. Das war das erste Mal, daß ich in einer Familie aufgenommen worden bin. Dann habe ich auch öfter bei Frau K. gewohnt. Mit der habe ich heute noch Kontakt. Der eigentliche Kontakt hat aufgehört, weil ich auf dem Ponyhof war.

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Da muß ich noch eine Geschichte erzählen. Ein Pfadfinderleiter wollte sich um irgendein Kind kümmern. Der hat das auch gemacht und mich öfter mitgenommen. Irgendwann sind wir mal zu einer Blockhütte. Ich konnte nicht mehr laufen; da hat er mich auf die Schulter genommen. Es war dunkel im Wald. Dann lief ein Tier vor uns her. Ich wollte sehen, was das für eines war, wollte streicheln. Und er fragte mich: „Hast du denn Tiere so gerne?“ Ich hatte noch keine richtige Ahnung von Tierliebe, was das bedeutet. Ich habe erst später festgestellt, daß das eine Katze war. Dann hat er die Katze reingeholt und mich gefragt: „Willst du jetzt rein?“ Natürlich wollte ich wegen der Katze. Und der fragte mich dann abends, ob ich Tiere gerne habe. Ich habe zwar Tiere gern gehabt, mir aber nie Gedanken darum gemacht, zumal ich da die Sauerei mit den Hühnern auf dem Anstaltsbauernhof ja kannte.

Als der mich fragte, ob ich Tiere gerne habe, habe ich einfach Ja gesagt. Ich wußte zwar, was "gerne haben" heißt, hatte aber diese Worte nie gehört. Jedenfalls sagte der: „Wenn du eins haben willst, kannst du eins haben.“ Heute würde ich sagen: Man darf Kindern keine Tiere schenken. Ich sehe ja, was dabei herumkommt. Die Eltern überlassen die armen Tiere den Kindern. Und wenn die Kinder keine Lust haben, interessiert die das nicht. Das habe ich oft genug erlebt, auch auf „De Piterberg“.

Dann bin ich zurück, und der F. St. hat dem F. das erzählt, ob ich ein Tier haben kann. Und dann sagte der F.: „Das muß ich mit Herrn G. absprechen“, also dem Hausleiter. Das hat er dann auch. Dann hat der F. gesagt: „Besser ist ein Kleintier, ein Wellensittich oder so was." Dann kam G. an und sagte: „Wenn der Jochen "Wellensittich" schreiben kann, kann er einen Wellensittich haben.“ Das war so ausgemacht. Ich hatte damals schon das Gefühl: Nie ein Tier alleine, immer zu zweit. Warum, frage mich nicht. Jedenfalls hat der G. zum F. gesagt: "Wenn der Jochen "Wellensittich" schreiben kann …" Er ging davon aus, der Steiner schenkt mir einen Wellensittich, und ich darf mir zu Weihnachten einen Wellensittich wünschen, wenn ich denn "Wellensittich" schreiben kann. Zu der Zeit konnte ich das nicht. Dabei hat mir der F. geholfen. Dann kam der Steiner mit einem großen Käfig mit zwei Wellensittichen. Da war ich überglücklich. Ich glaube, das war das erste Mal, daß ich glücklich war im Hermann-Luisen-Haus. Hermann-Luisen-Haus war also schon human, muß ich schon sagen.

An dieser Stelle überspringe ich einige Stunden Interview, in denen J. über seine Erlebnisse in weiteren Häusern der OAV berichtet. Hier seine Schilderung über seine Einweisung in eine Irrenanstalt. Damit wird dokumentiert, daß die Quälereien selbst nach seiner Kindheit im JHH kein Ende nahmen.

Vom Hans-Vietor-Haus zur Irrenanstalt.

Das war hundertprozentige Willkür. Herr Sch. war Hausleiter im Hans-Vietor-Haus. Dann kriegten wir den nächsten Psychologen, ich würde eher sagen: Psychopathen. Das war das größte Arschloch aller Zeiten. Der redete im Prinzip genau wie Otto P.: "Viel arbeiten, viel Geld." Nur mit dem Unterschied, daß er (der Psychologe) sagte: "Meine Jungens verdienen hier 2000, manche nur 1000." Mir wäre fast der Boden unter dem Arsch weggerutscht, als der mir den Scheiß erzählt hat. Niemand in der Anstalt hat jemals 1000 oder 2000 Mark verdient, außer die Mitarbeiter der Anstalt. Nicht die Krüppel. Ich dachte, nein, das kann nicht sein, was der da labert. Jedem hat der das Du angeboten, so richtig verbrüdert. Aber wehe, du machtest die Klappe auf. Da war die Kacke am Dampfen.

Ich kam öfter durch das Hermann-Luisen-Haus, weil ich ab und zu auch da nach den Fischen guckte. Und der (Psychologe) sagte: "Junge, komm mal rein. Hast du dahinten mal geguckt, was die Leute da machen? Ich sagte: "Ich weiß, was die da machen. So einen Scheiß habe ich früher auch gemacht, Schräubchen drehen und so." "Ja, die arbeiten richtig." "Ja und, und was nun?" "Willst du nicht auch hier arbeiten?" "Nee", sage ich in dem Ton, in dem ich jetzt rede, "bestimmt nicht." "Wieso denn nicht?" "Ich habe den Mist auch schon mal gemacht", sage ich, "Schräubchen drehen, Rückenschmerzen ohne Ende, hab keine andere Arbeit gekriegt." Dann sagte er: "Komm doch mal arbeiten, du verdienst hier wirklich 2000 Mark." Ich sag: "Wer tut das denn?" "Zum Beispiel der Günter B." "Wie bitte? Günter und ich kennen uns schon sehr lange, vom Ponyhof her. Der hätte mir das bestimmt schon mal erzählt oder mich öfter mal eingeladen auf eine ordentliche Sauferei oder sonst was. Das kannst du mir nicht erzählen." "Jochen, die bezahlen sogar ihre Miete davon." "Mich kannst du nicht verarschen. Ich lebe hier seit meiner Kindheit. Was hier ist, weiß ich zu gut selber. Ich lebe hier seit 1953 und lasse mich von dir nicht verarschen." "Jochen, aber es ist so." Also, der wollte mir einen verklickern. Der ist mit mir auch in die Werkstätten reingegangen. Ich dachte: Den Scheiß kennst du doch, kenne ich doch von Klein auf, diesen ganzen Mist. Ich habe aber nichts dazu gesagt.

Dann wurde der (Psychologe) eines Tages ein bißchen härter und sagte: "Junge, du gehst auch arbeiten." "Ich soll da arbeiten? Willst du mir drohen?" "Nein, es droht dir keiner. Brauchst keine Sorge haben. Aber du wirst dich schon wohl fühlen." Dann ging das immer weiter. Das Verhältnis wurde immer angespannter. Ich hatte immer eine Abneigung gegen den Kerl. Aber dann kam der Punkt, an dem er anfing, mich zu erpressen. Da habe ich gesagt: "Ich lasse mich von dir nicht erpressen." So in dem Ton wie jetzt. Er: "Na, wir werden schon sehen." Und irgendwann, das war nur eine Kleinigkeit, die Geschichte mit der Putzfrau: Da hat man mir sogar unterstellt, ich würde die Putzfrau anpacken. Da habe ich die gefragt: "Bin ich pervers? Eine Putzfrau? Hol die Putzfrau her, die ich irgendwie anbaggern wollte oder sonst was."

Irgendwann hat der dann Nägel mit Köpfen gemacht. Plötzlich kam da eine Horde Menschen. Vier, sechs - keine Ahnung. Ich hab sie nicht gezählt. "Herr Prietzel, gegen sie  ist eine Beschwerde gekommen. Wir sind von der Aufsichtsbehörde." "Und?" Dann fingen sie an aufzuzählen: Ich hätte einem Mitarbeiter die Prothese ins Kreuz geschmissen. Noch ist der Name nicht gefallen. Ich hätte die Leute drangsaliert, die im Hans-Vietor-Haus leben, die Mitarbeiter schikaniert, all so 'nen Scheißdreck. Ich sage: "Wie bitte? Das wiederholen sie  noch mal, vor allen Dingen das mit der Prothese." Dann habe ich mich umgedreht. Dann habe ich zu den Leuten der Aufsichtsbehörde, Gesundheitsbehörde, was das auch immer war, gesagt: "Das wiederholen sie  noch mal. Das nehme ich jetzt auf." Hier stand der Schrank und hier standen die ganzen Leute. Ich mache den Kassettenrekorder an und nehme das auf. Ich sage: "Das wollen wir mal sehen, ich möchte gerne hören, wer das behauptet hat." "Ja, das ist uns zugetragen worden. Man hat sich über sie beschwert, daß sie  für die Anstalt unhaltbar sind." Da habe ich mir schon fast die Hose voll gemacht.

Ich dachte, das nimmt jetzt kein gutes Ende. Ich wurde innen immer zittriger. Dann kam B. (o.g. Diplompsychologe). Er wußte nicht, daß ich das aufnehme. Der hätte mir den Kassettenrekorder weggenommen. Ich sage: "Was habe ich gerade gehört? Ich hätte den Leuten meine Prothese ins Kreuz geschmissen?" "Ja, das warst du." "Wie kommst du denn darauf? Ich habe noch nie einem Mitarbeiter irgendwas ins Kreuz geschmissen. Ich habe zwar schon mal jemandem eine Ohrfeige gegeben, aber mit Sicherheit nichts mit irgendwelchen Gegenständen getan." "Jochen, Jochen!" - So war er zugange. Ich sage: "Ich habe niemals so etwas begangen." Ich wußte aber, wer so was mit der Prothese gemacht hatte. Das war nämlich Charly. Der war besoffen. Aber der Charly hat dem nichts ins Kreuz geschmissen. Das hat der wohl falsch aufgeschnappt, oder er wollte mir eins reinwürgen, weil ich ein Krüppel bin; Charly hat ja beide Arme.

Dann sagte der (Diplompsychologe): "Herr Bremshey, Herr Bremshey." Und ich: "Wie bitte? Ich habe mit Herrn Bremshey noch nie Krach gehabt. Herr Bremshey hat zwar ab und zu angerufen, wenn ich zu laute Musik hatte. Aber wir haben nie Krach gehabt. Auch seine Kinder nicht. Sein Sohn ist öfter zu mir rüber gekommen." Und der (Diplompsychologe) ließ sich nicht beirren: "Dann müssen wir Maßnahmen ergreifen."

Ich hatte so eine Angst, daß du dir das überhaupt nicht vorstellen kannst. Das war eines der schlimmsten Erlebnisse, die ich jemals in der Anstalt hatte. Ich weiß nicht, wie alt ich damals war. Ich muß etwas über 30 gewesen sein. Daran kannst du auch sehen, daß solche Machenschaften nicht aufhören. Dann sind die gegangen, und ich hatte eine Angst. Die Angst werde ich mein Lebtag nicht vergessen. Ich war innerlich am Zittern, auch körperlich, nicht nur mit der Hand, wie das sonst üblich ist. Ich hatte so ein böses Gefühl. Und das, was ich hatte, bestätigte sich hinterher. Ich machte das Fenster und die Tür von meinem Zimmer auf, gegenüber die Badezimmertür auf und guckte raus. Ich wurde so nervös und wußte nicht mehr, was ich machen sollte. Ich weiß nicht, wie oft ich das gemacht habe. Dann habe ich mich hingesetzt. Es ließ mich nicht mehr los. Wieder aufgestanden, wieder hin und her gegangen. Auf einmal kam Schulz rein und sagte: "Hier sind ein paar Leute für sie." Zwei Krankenwagenfahrer, damals noch in diesen schwarzen Uniformen mit dem Hut usw.: "Ja, wir müssen sie  mitnehmen. Kommen sie  freiwillig mit?"

Du glaubst gar nicht, das war die Hölle. Dann habe ich gesagt: "Ich gehe freiwillig mit." Die hatten solche Gummischläuche zum Fixieren. Die kamen mit der Bahre da rein und mit diesen Schläuchen. Mich hätte es nicht gewundert, wenn die mich sogar mit einer Beruhigungsspritze da rausgeholt hätten. Aus Angst habe ich Ja gesagt. Ich wußte nicht, wohin. Aber ich ahnte es. Dann kam ich in die Klapsmühle nach Frönsberg. Das ist irgendwo Richtung Iserlohn. Als ich dann in dem Krankenwagen gesessen habe - die hatten damals diese Milchscheiben … Jedenfalls konnte ich noch aus dem Fenster gucken. Ich wollte noch dem Charly ein Zeichen geben, habe sogar an die Scheibe geklopft. War nichts zu machen. Die Fahrt hörte dann überhaupt nicht auf. Ich sah dann, wie da eine Schranke war. Als erstes zum Arzt. Der hat mich von Kopf bis Fuß untersucht. Das war mir peinlich. Er hat Fragen gestellt. Ich habe immer wieder gesagt, daß ich unschuldig bin. "Ich muß sie  untersuchen. Ich habe damit nichts zu tun", sagte der Arzt. Ich kam dann auf die Geschlossene. Da wurden hinter mir mindestens drei Türen abgeschlossen.

Zunächst einmal muß ich betonen, daß ich von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte. Ich weiß nur von anderen Leuten, daß das die Hölle war. Für mich auch. Nach der Untersuchung kam dann am nächsten Tag der Chef vom Ganzen. War übrigens ein Holländer. Dem habe ich auch gesagt, daß ich unschuldig bin. Ich habe nichts dergleichen gemacht, was man mir untergejubelt hat. Ich sagte: "Ich tue nur nicht das, was die wollen. Das ist der Grund, warum ich hier bin. Das können sie  mir ruhig glauben." Da sagte der Arzt zu mir: "Wenn ich sie  auf eine offene Abteilung tue, würden sie  abhauen?" Ich hätte am liebsten Ja gesagt, habe aber gesagt: "Ich verspreche ihnen, damit sie  sehen, daß ich kein schlechter Mensch bin, daß ich nicht abhauen werde." Prompt kam ich gegen Mittag nach unten auf die Offene. Da war ich auch wieder ein bißchen enttäuscht: Wenn du ausbüchsen wolltest, konntest du das auch nicht, da gab es eine Pforte. Die Frau hat mir gleich gesagt: Drei Tage muß ich auf der Offenen drin bleiben. Wahrscheinlich, um zu testen, ob man abhaut oder nicht, ob man sozusagen geläutert ist. Ich habe mich daran gehalten. Das einzige, was ich gemacht habe: Ich bin hinten auf den Balkon gegangen, weil so schönes Wetter war. Da war eine Mitarbeiterin, die hat die Unterlagen, die sie über mich getippt hatte, und auch andere Sachen, die mich betrafen, vertrauensvoll in die Hände gedrückt. Ich habe noch gebeten, davon ein paar Kopien zu machen, weil ich mich später rächen wollte. Dann kriegte ich von Charly einen Anruf, daß die meinen Garten zerstört haben.

Dann kam so eine Ärztin. Der habe ich gesagt: "Ich konnte nichts dafür, ich habe nichts angestellt." "Das sagen alle." Die Frau war gleich schlecht gegen mich eingestellt. Als wenn der B. (Psychologe der OAV) die schon geimpft gehabt hätte. Als ich dann hörte, daß meine Sachen sogar im ehemaligen Leichenkeller – (im JHH) das war für mich auch der Hammer - untergestellt worden sind, habe ich gesagt: "Ist das nicht eine Sauerei?"

In dieser Zeit, wo du in der Irrenanstalt warst, haben sie aus dem Zimmer des Hans-Vietor-Hauses …

Alles rausgeholt. Erst mal vorübergehend irgendwo anders, wo, weiß ich nicht …

In das ehemalige Leichenzimmer …

Leichenkeller.

Und das hat dich ganz hart getroffen, da du ja diesen Leichenkeller …

Als ekelhaft empfunden hast, ja.

Jetzt hatte ich wieder mal Schriftstücke gekriegt. Damit bin ich zur Pforte gegangen und habe gefragt: "Können sie  mir mal sagen, wie der Name heißt? Ich kann das nicht lesen." Da war die Alte (Ärztin) zufälligerweise dabei. "Wie kommen sie  denn daran?" Die keifte mich gleich an. Ich sage: "Das habe ich von jemandem bekommen." "Wer war das?" "Das werde ich ihnen nicht erzählen. Ich weiß, wer es war, kenne den Namen aber nicht." Dann sagte sie: "Her damit!" Hat die das genommen. Dann habe ich das Hemd aufgemacht und gesagt: "Gucken sie mal, was ich hier habe, einen ganzen Stapel voller Sachen." "Geben sie  das her?" Ich sage: "Die kriegen sie  nicht." "Sie geben jetzt die Sachen her!" Ich sage: "Nein, das mache ich nicht. Wollen sie  mich anpacken? Wagen sie  es, mich nur einmal anzupacken. Dann können sie  was erleben. Ich nehme da bei Männern keine Rücksicht und bei Frauen auch nicht. Alle, die so ekelhaft sind wie sie  und sie  versuchen mich nur ein einziges Mal anzupacken, können sie  mit dem Schlimmsten rechnen, nämlich Ohrfeigen, aber ganz kräftig. Lassen sie  es sein! Sie kriegen die Sachen nicht!" Die habe ich dann schön versteckt, möglichst immer am Körper, das Zimmer war nicht abzuschließen.

Dann habe ich immer wieder versucht, den Pastor L. anzurufen. Klaus Keil hat mich einmal besucht, hat mir Taschengeld mitgebracht. Das ganze Taschengeld habe ich vertelefoniert an Polizisten, Rechtsanwälte, die ich nicht kannte. Ich habe mir die Nummern aus dem Telefonbuch herausgesucht, Richter usw. Nichts! Gar keine Chance!  "Ja, dagegen können sie  sich beschweren. Das ist Freiheitsberaubung" etc., wurde mir geraten.

Ich war wieder ein bißchen guter Hoffnung. Nur, das Problem ist: An dem Tag - das war ein Donnerstag - war ein Richter da. Ich bin aber zu spät eingeliefert worden. Ich war um 14 Uhr da, der Richter von 12 bis 14 Uhr. Da konnte ich den nicht erreichen. Eine Woche später habe ich dem das erzählt. Da saß ein Rechtsanwalt, den ich nicht kannte, hier eine Frau, die ich nicht kannte, eine Ärztin, die da zu dem psychologischen Kack dazu gehörte, und da der Richter. Ich habe beteuert: "Ich habe nichts gemacht." Der Rechtsanwalt hat mit mir gar nicht gequatscht. Ich wurde gefragt: "Weswegen sind sie  hier?" Ich sage: "Ich habe nichts angestellt." Der Richter sagt: "Dann erzählen sie  mal." Ich habe denen das erzählt, daß der Baesch mich an die Arbeit kriegen wollte. Ich habe denen auch das mit dem vielen Geld erzählt. Ich sage: "Ich lebe seit 1952 in der Anstalt und weiß, was da los ist. Das ist eine reine Willkür. Ich habe nichts Böses getan. Der wollte mich nur an die Arbeit kriegen." Der Richter guckt ernst zu der Ärztin und zum Rechtsanwalt. Plötzlich sagte der: "Wissen sie  was? Jetzt gehen sie  nach oben, packen ihre Sachen und verschwinden hier." Wenn das jetzt eine Frau gewesen wäre, hätte ich den abgeknutscht von Kopf bis Fuß, so glücklich war ich. Aber jetzt kommt die Schärfe.

Du mußt dir vorstellen, ein Stuhl mit Lehnen. Wenn ich so liege, merkt man das Zittern nicht so. Jetzt habe ich aber mal meinen Arm so gehabt und zitterte. Der Richter fragte mich, ob ich Alkohol trinke. Zu der Zeit war es nicht aus Frust, sondern aus Freude. Immer, wenn ich mich gefreut habe, habe ich mir einen gezwitschert. Ich hatte ja keine Freundin zum Umarmen. Das war für mich ein Ausdruck der Freude. Ich zitterte so, weil ich den Arm so hatte. (Dieses Zittern hängt mit seiner Körperbehinderung zusammen und hat keinen ursächlichen Zusammenhang mit gelegentlichem Konsumieren von Alkohol. Vielmehr liegt eine erhebliche Störung, bzw. eine Beeinträchtigung der Feinmotorik vor.) Da sagte diese Ärztin, die ich gar nicht kannte: "Sie zittern ja noch!" Mir hat es nie was ausgemacht, wenn einer zu mir "Krüppel" gesagt hat. Aber da hatte ich Angst, daß die mir jetzt das Genick bricht. Ich sage geistesgegenwärtig: "Ich habe von Klein auf gezittert. Früher habe ich noch schlimmer gezittert. Wenn ich drei Bauklötze übereinander stellen wollte, dann sind die umgekippt. Da habe ich auch das Fluchen gelernt. Sie wollen doch jetzt nicht behaupten, daß ich als Kind schon mit Alkohol abgefüllt worden bin, oder?" Da fiel mir der Richter ins Wort und sagte: "Nix, der Mann kann nach Hause. Gehen sie  nach oben, ich mache die Papiere fertig, dann können sie  nach Hause."

Ich war überglücklich. Als ich oben war, war allerdings das Problem, daß ich mir sicher war: In die Anstalt kommst du nicht wieder zurück. Wenn, dann kommst du in eine Anstalt, wo es knallhart zugeht, knallhärter, als ich es jemals in Volmarstein erlebt habe. Dann ging das hin und her, ob ich da bleiben durfte. Da kam die nach oben und hat gefragt: "Wo wollen sie  denn hin, wenn sie  nicht nach Volmarstein dürfen?" Dann bin ich noch eine Woche da geblieben, hatte mehrere Male versucht, den Pastor L. anzurufen. Der war zu der Zeit in Urlaub. Am Ende habe ich ihn gekriegt und ihm gesagt: "Ich kann ihnen nur so viel versprechen, daß ich mich in der Öffentlichkeit beschweren werde, daß ich in die Klapsmühle kam." Man hätte ja sagen können: Jochen, sei diplomatisch und halte die Schnauze. Habe ich nicht. Jedenfalls war es dann so: Pastor Lotze sagte: "Ich werde zusehen, was ich machen kann." Ich dachte: Ach, du lieber Gott, wenn der schon so redet, wird da auch nichts Gutes bei herumkommen. Schließlich und endlich war dann klar, daß ich wieder zurückkam ins Hans-Vietor-Haus. Damit war die Sache gegessen.

Ich wollte mich erst mal von diesem ganzen fürchterlichen Schiß erholen. Ich muß eins betonen: Die Angst, dahin zu kommen, war schlimmer, als es da eigentlich war. Es war sehr human - vielleicht auch, weil das ein Holländer war, weil die Holländer gegen Krüppel viel aufgeschlossener sind als hier in Deutschland. Hier ist es ja auch gut geworden, muß man sagen. Früher war das eine Katastrophe. Ich habe den übrigens noch mal im Hans-Vietor-Haus gesehen, wollte mich bei ihm bedanken. Aber der war zu schnell. Ich wäre gerne hingegangen und hätte ihm die Hand gedrückt und mich dafür bedankt, daß das da so human zugegangen ist. Nur: Die eine Frau hätte ich angeschwärzt.

Jedenfalls kam ich da raus, kam vorübergehend nach oben auf dein (Interviewpartner) ehemaliges Zimmer. Da blieb ich eine ganze Zeit lang. Dann kam später der N. als Hausleiter. Charly hatte erzählt, daß er sich eine Zeit im Hans-Vietor-Haus wohlfühlte mit diesen Farben an er Wand, Orange und Grün. Ich war ja auch der erste, der sich Tapeten aussuchen durfte. Da hat N. das Zimmer so herrichten lassen, wie es früher war, hat das wirklich einwandfrei gemacht. Ich konnte von da ab wieder da unten leben. Damit ist eigentlich diese Sache Klapsmühle beendet bis auf das, daß ich mich beschweren wollte. Man hat mir gesagt, ich sollte eine Anzeige wegen Freiheitsberaubung machen. Nur: Ich bin zu spät. Ich mußte mich erst mal ein bißchen von dem Ganzen lösen. Hinterher habe ich noch damit …

Es hätte auch wenig gebracht …

Der Rechtsanwalt hat zu mir gesagt: Du hättest früher kommen müssen.

Jochen, jetzt ein völlig anderes Thema! Was war das Ereignis, wo du zum allerletzten Mal richtig Angst hattest?

Und damals noch mit dem N. Der hatte was in die falsche Röhre gekriegt. N. hat seinerzeit angefangen. Da war eine Hausbesprechung. Dann hörte ich, was die da machen wollten. Ich war nicht bei der Besprechung dabei, kam gerade an der Tür vorbei und hörte ein bißchen rein. Da sagte ich: Nee, so nicht. Ich will mein Leben führen, wie ich es bisher geführt habe, ich lasse mir von niemandem reinreden. Das war die Geschichte, wegen der damals die Anette da war. Bei dir (Interviewpartner) war immer das oberste Prinzip: Jochen, halte dich von den Leuten fern. Habe ich ja auch versucht. Nur: N. wollte genau das Gegenteil. Anette war ja nun da und sagte: "Du brauchst dich nicht mit den anderen Leuten abzugeben." Jedenfalls wollte ich das nicht, und das hat N. total in den verkehrten Hals gekriegt und hat versucht, mir das Leben zur Hölle zu machen. Daraufhin habe ich die Fernsehanstalt in Dortmund angerufen, habe erzählt, daß ich wieder unter Willkür der Mitarbeiter zu leiden habe. Ich sage: "Bitte, sprechen sie  nicht mit den Anstalten, die streiten das sowieso ab." Dann fragte die (TV-Mitarbeiterin) mich noch: "Haben sie  eine Person, der sie  eventuell glauben, die es gut mit ihnen meint?" Dann habe ich den Pastor R. erwähnt. Und was war? Ich komme aus der Telefonzelle heraus und kriege gesagt: "Wenn du wagst, da noch mal anzurufen, dann kannst du was erleben." Ich hatte innerlich eine Angst; das kannst du dir gar nicht vorstellen. Ich fing zu zittern an. Ich habe dann später auch gesagt: "Ich wollte dir (N.) gar nicht vors Bein pinkeln, ich wollte das nur nicht mitmachen. Und wenn du glaubst, daß ich dich deswegen hasse - keine Sorge. Es gibt nur eine Person, das war dieser B. (Psychologe der OAV) , das war für mich die Härte hoch drei." Ich sagte weiter: "Wir hätten darüber reden können." Er kam hinterher mal zu mir auf das Zimmer. Ich habe gesagt: "Ich trage niemandem was nach, außer dem B. Auch die Kinderzeit ist für mich gegessen und vorbei. Wir können darüber quatschen. Ich bin darüber vielleicht ein oder zwei Tage sauer, und dann ist die Sache für mich erledigt." Dann sagte er: "Das hätte ich wissen müssen." Er hätte das auch nicht so gemeint …

Diakon Günter K. sagt J. und A. “Gute Nacht” auf der ersten Jungenstation im Hermann-Luisen-Haus .

Der richtige Mann zu anderer Zeit in anderem Haus. Günter K. zehn Jahre vorher als Leiter der Kinderstationen im JHH, und den Kindern wären viel Leid, Grausamkeiten und Verbrechen erspart geblieben. Er konnte sich zurecht “Hausvater” nennen. Für viele war er mehr: Vater. Ihnen zeigte er die Welt, ihnen schenkte er Zeit. Diakon K. war im HLH Diakon im Sinne des Wortes. Er bleibt unvergessen.