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Lieber K.!
Schön, daß ich überhaupt mal wieder etwas von Dir höre. Erschüttert bin allerdings darüber, daß ich in ausführlichen Schilderungen lesen
mußte, welch eine furchtbare Kindheit Du hattest. Nun brauchen wir uns nicht gegenseitig auf die Schulter zu klopfe. Ich wurde mißhandelt, andere wurden mißhandelt. Aber daß Du so extrem leiden mußtest, das war
selbst mir nicht geläufig, das habe ich nicht mitbekommen. Ich bin erschüttert darüber, was man Dir da unter dem Kronenkreuz angetan hat.
Du hast ja in meinem Leserbrief, den ich in UK geschrieben habe,
festgestellt, daß ich noch relativ vorsichtig formuliert habe. Inzwischen bin ich zu der Erkenntnis gekommen, daß alles noch sehr viel schlimmer war, als ich es persönlich bewußt erlebt habe. Neben Deinen
Schilderungen, die ich natürlich vom Inhalt her bestätigen kann, weil diese Grausamkeiten ja so oder ähnlich auch an anderen Kindern verbrochen wurden, habe ich vor fast vier Wochen die Schilderungen von M. gelesen.
Ich habe sie mindestens drei oder vier Mal gelesen und es war immer wieder ein Schlag für mich, was sie alles berichtete.
Ich bin heute fassungslos. Nicht nur über M., sondern jetzt zusätzlich über Dich,
fassungslos darüber, daß Ihr beide diese teuflische Zeit doch relativ gut überstanden habt. Wenn man den Begriff „gut“ in diesem Zusammenhang überhaupt erwähnen darf. Auf alle Fälle habt Ihr diese Zeit überlebt und
das ist schon ein Grund für blankes Staunen. Diese Folterungen, diese Schläge, diese psychischen und physischen Mißhandlungen, die teilweise ja sogar in den sexuellen Bereich gingen, waren dermaßen brutal, - dagegen
ist das Buch von Peter Wensierski „Schläge im Namen des Herren“ eigentlich ein Märchenbuch.
Ich danke Dir ganz herzlich dafür, daß Du Dich erinnert und einige Qualen beschrieben hast. Und ich finde
unbedingt, dass man diese Erinnerungen nicht zwischen einem Aktendeckel verpuffen lassen darf, in der Gewißheit, daß ein Jahr später niemand mehr darüber spricht.
Diese Erinnerungen wach zu halten ist darum
wichtig, weil wir auf einer tickenden Zeitbombe sitzen: In 10, 15 Jahren stehen wir wieder vor dem Problem, in ein Heim zu müssen. Diesmal in ein Altersheim. Und da es in diesen Heimen unserer Republik nicht überall
gut bestellt ist, sondern im Gegenteil in einigen Einrichtungen katastrophale Zustände herrschen, stehen wir vor der Frage: Wiederholt sich unsere Kindheit nun im Alter? Werden wir im Alter liebevoll umsorgt oder
müssen wir in eine Windel mit 12-kg-Windel scheißen, weil kein Pflegepersonal Zeit oder Lust oder Interesse hat, uns täglich wenigstens einmal die Windeln zu wechseln?
Indem wir die Erinnerungen unserer
Kindheit permanent publik halten, können wir zumindestens eine Entschädigung in der Form erwarten, daß wir, sollten wir eines Tages ins Heim kommen müssen, unter Beobachtung stehen. Unter Beobachtung dahingehend,
daß unaufgefordert und unangemeldet überprüft wird, wie es uns geht und daß man uns dann Glauben schenkt, wenn wir etwas auszusetzen haben, wenn wir im Altersheim leiden. Ich habe schon vor Jahren testamentarisch
verfügt, dass ich obduziert werde, wenn ich sterbe. Welch ein Gefühl der Sicherheit, wenn dies auch eines Tages mein Altersheim weiß.
Ich persönlich trage mich mit dem Gedanken, alle Geschichten, die hier bei
mir einlaufen, einfach zu sammeln und daraus ein Buch zu machen. Auch ich habe viele Geschichten aus dieser Zeit geschrieben und was zwischen Buchdeckeln steht, kann erst einmal nicht unter den Tisch gekehrt werden.
Ich finde, nach all dem Leid, das wir erfahren haben, und zwar jahrelang 24 Stunden rund um die Uhr, haben wir ein Anrecht darauf, daß die Geschichte in der Form aufgearbeitet wird, daß man versucht, uns die
letzten Jahre des Lebens erträglicher zu gestalten. Eventuell besteht das in einem zusätzlichen Taschengeld neben dem normalen Taschengeld im Altersheim, damit wir zum Beispiel das Personal bestechen und uns seine
Gunst erkaufen können. Dieses Geld hat uns als Kinder ja gefehlt. ... Selbst wenn sich kein Verlag für ein Buch findet, wäre es überlegenswert, eine Homepage zu errichten, auf der über die „Hölle von
Volmarstein“ Material zusammengetragen wird und für die Betroffenen aus diesen Jahren entweder nach Eingabe eines Paßwortes oder für alle öffentlich einsehbar ist.
Von einer Aufarbeitung des Herren Springer erwarte ich nichts. ...
Ich leiste meinen Beitrag zur Aufarbeitung nur noch gegenüber Diakoniepräsident Gohde, da ich dort das Gefühl habe, daß er nach ersten
anfänglichen Beschwichtigungsversuchen nun doch an einer echten Aufbereitung interessiert ist. Mit Herren Springer habe ich den Kontakt völlig abgebrochen, weil er absolut zu nichts führt. Er hat ja auch an anderer
Stelle geschrieben, daß er im letzten Jahr seiner Amtszeit in der Ev. Stiftung Volmarstein eigentlich gar keine Zeit mehr hat.
Lieber K., Deine Schilderungen haben mich erschüttert! Deine Schilderungen
können dazu dienen, andere Behinderte zu ermutigen, selbst zu berichten. Du hast so mutig dokumentiert, daß der Eindruck vermittelt wird: „Ja, wir haben keine Angst mehr vor Repressalien und vor Verunglimpfungen und
auch nicht vor irgendwelchen Strafandrohungen. Wir erzählen, wie es war und wir können gegenseitig bezeugen, daß es so war.“ Es wäre schön, wenn Du mit Deiner Zustimmung zur Weitergabe Deines Berichtes, anonym oder
mit Namen, dazu beitragen könntest, das Leid der Gequälten und Geschundenen in Erinnerung zu behalten.
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