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Anne erzĂ€hlte, sie sei am 01. 04. 1947 ins Johanna-Helenen-Heim gekommen. Die Schwestern hieĂen aus ihrer Erinnerung zu der Zeit Lina, Marta, Luise, eine
weitere Lenchen. Die Hausleitung soll zu der Zeit Schwester Helene geheiĂen haben.
Ihre Unterkunft war ein 13-Betten-Zimmer; ihr war auch ein anderes 8-Betten-Zimmer auf der selben Station in Erinnerung.
Ob sie auf der Kinderstation Gewalterfahrungen gemacht habe? âEindeutig ja!â Sie wurde von den Schwestern gelegentlich geschlagen, da war sie erst 7
Jahre alt. Was aber besonders schlimm gewesen sei: Wenn sie unartig gewesen sei, hĂ€tte man sie die Nacht ĂŒber in ihrem Kinderbett in eine Badestube geschoben. Dort musste sie dann die gesamte Nacht ĂŒber
verbleiben.
Auf die Frage, wer sie denn verhauen habe, erzĂ€hlte Anne, dass sie von allen Schwestern ihrer Station verhauen wurde, auĂer von Lenchen. Lenchen
hĂ€tte schon mal einige Dummheiten ĂŒbersehen, wenn sie ihr nur oft genug den RĂŒcken gekrault hĂ€tte. Ich habe nachgefragt, was sie damit konkret meine. Anne: Lenchen hĂ€tte es wohl gerne gehabt, wenn man ihr den
RĂŒcken gekrault habe und dann hĂ€tte sie auch die eine oder andere Dummheit verziehen.
MÀdchen und Jungen seien immer getrennt gewesen. Zu dieser Zeit wÀre Pastor Vietor Anstaltsleiter gewesen und zwar bis etwa 1957. Sie sei von 1947 bis
1955 auf der MĂ€dchenstation des Johanna-Helenen-Heims gewesen.
Richtig brutale Gewalt habe sie etwa 1950 erlebt, als sie zum ersten Mal mit Lehrerin St. Kontakt hatte. Weil Anne eine BettnÀsserin war, hÀtte
Lehrerin St. angeordnet, dass sie vom Verlassen der Kinderstation an, bis zum Eintreffen der Lehrerin auf dem Klo zu sitzen habe, damit sie sich noch einmal dort entleeren könne. Auf dem Klo wÀre es immer sehr
kalt gewesen; sie hÀtte stÀndig einen kalten Unterleib gehabt. Und so ist es dann passiert, dass sie öfter mal in der Klasse in die Hose gemacht hat. Wegen einem nichtigen Vorfall hÀtte die behinderte Lehrerin
St. sie mit ihrem KrĂŒckstock grĂŒn und blau gehauen. ZunĂ€chst auf den Hintern. Nachdem sie dann aber zusammengebrochen war, habe die Lehrerin St. ihr den KrĂŒckstock mehrere Male ins Kreuz geschlagen. Als sie dies
ihrem Vater erzÀhlte, habe er seine Tochter sofort genommen und wÀre mit ihr direkt zum Anstaltsleiter Pastor Vietor gegangen und ihm gedroht, die Lehrerin anzuzeigen. Vietor hÀtte gesagt: Bitte zeigen sie die
Lehrerin nicht an, das ist die beste Lehrerin, die wir haben.
Ob sie Gewalt auch durch die Lehrerin S. erfahren hÀtte. Nein, meinte Anne, dort wÀre sie im ersten Schuljahr gewesen. Lehrerin S. hÀtte ihr nichts
getan.
Nach dem Besuch des Anstaltsleiters habe Lehrerin St. sie völlig ignoriert. Sie habe sie nicht mehr abgefragt und ihr nicht die gleiche Zuwendung
gegeben, wie andere Kinder sie erfahren hÀtten. Anne berichtete, dass sie nach diesem Vorfall nie wieder versetzt wurde, so dass sie also bis 1955 quasi das gleiche Schuljahr durchgemacht hÀtte. Ich habe sie
gefragt, ob sie ein GefĂŒhl dafĂŒr Ă€uĂern könnte, dass sie nicht mehr die Zuwendung dieser Lehrerin erfahren hat. Anne sagte, dass sie schon ein merkwĂŒrdiges GefĂŒhl gehabt hĂ€tte. Lediglich ab und zu, wenn sich
niemand meldete, aber sie die Hand hob, wÀre auch sie zum Zuge gekommen.
Ich fragte noch einmal: âHast du nach einer gewissen Zeit nicht irgendeine andere Klasse besucht?â Anne sagte: Nein, sie wĂ€re bis zum Fortgang aus
der Schule in ein und der selben Klasse verblieben. Eines Tages hÀtte ihr Vater Anstaltsleiter Vietor nach Zeugnissen gefragt und Vietor habe dem Vater gesagt, Zeugnisse könne er nicht finden, aber das wÀre nicht
so schlimm, Anne wĂŒrde sowieso ihr Leben lang in Volmarstein bleiben.
Anne erzÀhlte, der Vater habe sie nach der BrutalitÀt der Lehrerin St. bei der Hand genommen und wÀre mit ihr auch zu einem Dr. K. in die Klinik
gegangen. Dr. K. habe zum Vater nur so oder Àhnlich gesagt: So habe ich meinen Sohn auch gerade verhauen, weil er auf einen Baum geklettert ist.
Anne erinnerte sich auch an die ZwangsfĂŒtterungen, die auch auf ihrer MĂ€dchenstation stattgefunden haben. Insbesondere blieb ihr im GedĂ€chtnis, dass
es Graupensuppe gab.
Ich habe sie noch einmal nach dem Beginn ihrer Gewalterfahrungen gefragt. Sie erzÀhlte, dass sie 1947 noch nicht diese Gewalt erfahren habe. Zwar habe
sie manchmal eine Ohrfeige bekommen, aber prÀgend sei wohl ein Erlebnis etwa um 1949 herum gewesen, wo sie mit ihrem Bett ins Badezimmer gefahren wurde, weil sie laut in ihrem Zimmer getobt habe. Keiner half,
allerdings war die TĂŒr offen, sie hĂ€tte Angst gehabt, das Badezimmer zu verlassen. Die erste ZwangsernĂ€hrung habe sie zwischen dem 7. und 8. Lebensjahr erfahren.
Ihre Erinnerungen an ihre PubertĂ€t bezeichnete sie als âgrauenvollâ. Damals hĂ€tte es keine richtigen Binden, sondern sogenannte
âStrickbindenâ gegeben. Dieses seien Binden gewesen, die ihr an einem vorhandenen Gurt, den man wĂ€hrend der Menstruation zu der Zeit um die HĂŒfte trug, befestigt wurden. Wenn diese Binden verschmutzt
waren, dann kamen sie in einen groĂen Bottich und wurden dort ausgekocht. Sie habe nicht immer richtig saubere Binden zurĂŒckbekommen. Auf die Frage, ob sie denn stĂ€ndig, wenn sie also das BedĂŒrfnis nach einer
neuen Binde gehabt hÀtte, Zugriff auf eine solche gehabt hÀtte, antwortete sie, dass ihr diese Binden zugeteilt wurden. Jeweils eine morgens, eine mittags und eine abends. Und wenn sie sich dann die Hose dreckig
gemacht habe, hÀtte es etwas gegeben. Ich fragte hinterher, was sie damit meinte und sie erzÀhlte: dann habe man ihr die Unterhose um die Ohren gehauen.
Als unangenehm empfand sie auch, dass jeweils drei MĂ€dchen in einer Wanne gebadet wurden. Ich fragte sicherheitshalber, ob sie wohl hintereinander in
einer WannenfĂŒllung gebadet wurden. Nein, es seien jeweils drei MĂ€dchen gewesen, die gleichzeitig in einer Wanne gebadet wurden. Sehr unangenehm wĂ€re es ihr auch gewesen, dass die Schwestern, obwohl sie sich
unter Aufsicht gebadet hĂ€tte, im Intimbereich immer nachgewaschen hĂ€tten. AuĂerdem fĂŒhlte sie sich wĂ€hrend ihrer PubertĂ€t stĂ€ndig so unangenehm beobachtet.
Ob die Gewalt in der Schule nur gelegentlich und in EinzelfÀllen vorgekommen sei, fragte ich sie. Nein, betonte sie, Gewalt hÀtte es tÀglich gegeben.
Ob ein, drei, fĂŒnf oder gar zehn SchĂŒler oder SchĂŒlerinnen von dieser Gewalt betroffen waren, hakte ich nach. âEindeutig ĂŒber zehn!â, betonte Anne mehrfach. Ob diese zehn jeweils tĂ€glich Gewalt erfahren
hĂ€tten, fragte ich konkret. Nein, aber diese vielen SchĂŒler und SchĂŒlerinnen aus ihrer Klasse hĂ€tten immer wieder und hĂ€ufig Gewalt unter der Lehrerin St. erlitten.
Eine besonders schlimme Erfahrung hat sie gemacht, die sie bis heute nicht vergessen kann. 1952 kam ihre Mutter auf die Frauenstation, weil sie an
Multipler Sklerose erkrankte. Sie, Anne, also ihre Tochter, die eine Etage höher auf der Kinderstation gelebt hat, durfte ihre Mutter nur einmal wöchentlich besuchen, aber nur, wenn auch ihr Vater gekommen war.
Das war jeweils sonntags. Auf die Frage, ob ich richtig gehört habe, dass sie nur einmal pro Woche ihre im selben Haus wohnende Mutter besuchen durfte, antwortete sie:âSo war es.â
Sie habe erfahren, dass ihre Mutter trotz einer verwaschenen Stimme hĂ€ufiger gefragt hat, ob ihre Tochter sie nicht besuchen dĂŒrfe. Das habe man abgelehnt,
es wÀre dabei geblieben, dass sie nur zusammen mit ihrem Vater ihre Mutter besuchen durfte. Diese Gemeinheit hat sich bis zum Tode der Mutter, im Dezember 1955, so zugetragen. Obwohl Anne bereits am 01. Mai. 1955
das Johanna-Helenen-Heim verlassen hat, habe man ihr bis zum Tod der Mutter nicht gestattet, auĂer an Sonntagen, die Mutter auf der Frauenstation zu besuchen. Voraussetzung war auch immer die Anwesenheit des Vaters.
Dr. K. wÀre einmal im Monat zur Visite auf die Kinderstation gekommen. Dann hÀtten sich die Kinder jeweils in den SpeisesÀlen versammelt. Die
ZwischentĂŒr vom MĂ€dchenspeisesaal zum Jungenspeisesaal wĂ€re geschlossen worden. Dr. K. habe sie immer als Hexe bezeichnet.
Wann denn nun endlich die Gewalt aufgehört hĂ€tte, fragte ich sie. Auf diese Frage hĂ€tte sie schon gewartet. DarĂŒber hĂ€tte sie auch mit Historiker
Schmuhl gesprochen. In Wirklichkeit hÀtte die Gewalt auch noch Jahre spÀter stattgefunden, zum Beispiel die psychische Gewalt durch die Hausleiterin F. des Hauses Bethesta und H. des Jugendwohnheims.
An GĂŒnther Kirschbaum hat sie angenehme Erinnerungen. GĂŒnther Kirschbaum wĂ€re auch einer ihrer Trauzeugen gewesen. Wobei sie sich auch an die anderen
DiakonenschĂŒler, die sie im Laufe dieser Zeit kennengelernt hat, angenehm erinnert.
Eines ist ihr auch noch haften geblieben. Sie sah öfter durch das Klassenfenster, wenn Leichen entweder von der Klinik oder von anderen HÀusern den
kleinen HĂŒgel vor dem Klassenfenster hinuntergetragen wurden und die TrĂ€ger dann eine Kehrtwendung machten, um ĂŒber die AuĂentreppe nach unten in den Leichenkeller zu gehen. Auch auf der Kinderstation wĂ€ren
ganz zu Anfang gelegentlich Kinder gestorben, weil sie einem Typhusleiden erlegen waren. Die Schwestern hÀtten solche gestorbenen Kinder dann in ein kleines Zimmer getan und es zugeschlossen. Am anderen Tag hÀtte
der Hausmeister Gustav G. und ein Diakon aus der Klinik dann das Kind hinuntergetragen.
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