|
Ich kann mich auch noch an eine Stunde erinnern, wo wir Scherenschnitte hergestellt haben. Ich saß am Fenster, wo die Treppe nach unten in die
Leichenhalle ging. Ein Arzt ging die Treppe runter, eine Tasche in der Hand. Ich wusste, dass nun da unten jemand aufgeschnitten wurde. Da sollte ich mich auf irgend etwas konzentrieren? Meine
Gedanken waren ganz woanders. Ich war etwa 3 Jahre vorher in der Klinik zu einer „Narbenkorrektur“ und habe miterlebt, wie dort ein Junge starb. Meine Hände waren klatschnass. Nun kann sich sicher
jeder vorstellen, wie das Samtpapier aussah: wunderschön glänzend. Was glaubt ihr, wie es weiter ging? Richtig ! Erst wieder die üblichen Beschimpfungen von Seiten Frau Steiniger, und dann
noch einen mit dem Krückstock übers Kreuz, damit ich es beim nächsten Mal besser mache.
Nun, dann ging’s gegen 17 Uhr nach oben (ich hatte manchmal sehr viel Glück, dann brauchte ich über meine Ungeschicklichkeit
keine Strafarbeit zu schreiben) dort hatte ich einen Jungen zu betreuen, sprich: morgens ihn in seinen Gehapparat schnüren (wie bei den Schuhen die Schnürsenkeln), dann zum Waschen und anschließend
runter zum Frühstücken bringen. Je nach Bedarf tagsüber behilflich sein und abends dann nach dem Essen wieder zum Waschen und ins Zimmer mitnehmen, ausziehen und „gute Nacht „.
Das war der Tag.
Gut, manches Mal war der Nachmittag sehr langweilig, man konnte sich mit nichts beschäftigen, weil nichts da war. Ich erinnere mich noch, dass
ich meinem Vater geschrieben habe, er möchte mir doch ein Schiff aufmalen, ich würde es gerne ausschneiden und zusammen kleben. Riesig gefreut habe ich mich, als er mir einen Schiffsmodelbaubogen der Firma
„Wilhelmshavener Schiffs-Modellbau-Bogen „ schickte. Es war die „Wappen von Hamburg„ - ein Passagierschiff, etwa 600 mm lang. Das habe ich dann abends im Bett ausgeschnitten und zusammen geklebt.
Natürlich nur in den Sommerzeiten, wenn es noch hell war; wir mussten immer abends früh ins, und morgens früh aus dem Bett.
Oft saßen einige von uns am Fenster und sahen ins Ruhrtal, fuhren in Gedanken die Flüsse aufwärts bis zur Nordsee – ja, wir konnten uns so
reinsteigern, dass ich später wunderschöne Träume davon hatte. So hatten wir wenigstens in Gedanken etwas Freiheit. Oh, dieses Eingesperrtsein war mit das Schlimmste, das es für mich gab und hat mich
bis heute begleitet. Wir durften manchmal, je nach Wetterlage oder Lust und Laune der Schwester, in einen Hof, schön getrennt, die Mädchen zur einen Seite, die Jungs zur anderen. Das war, wenn
schon, nur kurz aber schön, weil frei - draußen! Uns war es nicht erlaubt, mit den Mädchen zu reden. (Wenn es Frühling wird oder die Blätter sich im Herbst färben, muss ich raus, weg, zur
See. Diese Weite und Unendlichkeit gaben mir Ruhe und Zufriedenheit.
Was haben wir im Heim gebraucht, nachdem uns unsere Eltern dort abgegeben haben? Doch erst einmal ein wenig Liebe und Zuneigung, vielleicht auch mal
etwas Trost, wenn uns das Heimweh packte. Was haben wir bekommen? Wir wurden gezüchtigt!
Gut kann ich mich noch daran erinnern, wie ich mit einem Mitinsassen weggelaufen bin. Wir hatten uns einige Sachen organisiert und notdürftig zusammen
geschnürt. Das Herz schlug uns bis zum Hals, als wir uns aus dem Fenster über den Toiletten im Erdgeschoß auf den Hinterhof herab ließen. Wir kamen nicht weit, ich denke so etwa 3 Kilometer, dann
hatte man uns schon wieder eingefangen. Heute, nach über 50 Jahren weiß ich warum! Horst Moretto hatte von dem Plan gewusst, bekam ein schlechtes Gewissen und hat uns bei der Schwester
als entlaufen gemeldet. Wir wurden kurz darauf von der Polizei wieder eingefangen und zurückgebracht. Das war mein erstes Weglaufen, es folgten noch 5 „Ausbrüche“, jedoch aus anderen Heimen.
Wenn ich an das Essen denke, überkommt mich heute noch Zorn, nicht über das, was es gab, sondern, dass jeder alles essen musste, ob er es mochte oder
nicht! Nun, ich habe mit ansehen müssen, wie neben mir erbrochen wurde, aus welchem Grund auch immer. Sowie es bemerkt wurde von der Aufsicht, wurde es demjenigen wieder zugeführt, mit Gewalt! Auch mir
ging es so, es gab Brotsuppe mit Kümmel und Rosinen. O k., mancher wird sagen: “ Ist doch nicht schlimm!“ Ich mochte es einfach nicht. Was war das Ende vom Lied? Mir wurde die Nase zugehalten und die
Suppe eingelöffelt! Was passierte ? – Genau, es kam wieder hoch. Und nun, sie wurde wieder eingetrichtert!
Ich hatte mir damals geschworen, wenn ich einmal mein eigenes Geld verdiene, werde ich das kochen und essen, was mir schmeckt. Natürlich gab
auch Essen, das ich mochte, ich mochte die Fettstücke in den Eintöpfen recht gern und ließ mir die dann auf meinen Teller legen. Das musste natürlich unbemerkt vonstatten gehen, sonst gab
es Ärger.
Zum Strafvollzug kam in regelmäßigen Abständen der damalige Oberarzt und spätere Chefarzt Dr. K. Hatte einer sich aus Sicht der Schwester
etwas zu Schulden kommen lassen, so gab es je nach Schwere eine Ermahnung oder was hinter die Ohren. Doch hauptsächlich kam er, um seine Betten in der Klinik zu belegen und Versuche durchzuführen. So
kam auch ich an die Reihe.
Es war kurz bevor er den Zugriff bei mir verloren hatte, es muss im Januar/Februar 1958 gewesen sein, als ich in der Klinik eintreffen musste. Ich
wurde aufgeklärt, (ich war 14) dass man mir über dem Knie einen 30°-Keil entfernen müsste, damit die X-Bein-Stellung behoben würde, so dass ich danach besser mit einer Prothese zu Recht kommen
würde. Nach etwa 35-40 Jahren hat ein Orthopäde festgestellt, dass mein Knie dabei verdreht wurde. Also kein Vorteil, sondern eher ein Nachteil! Dort traf ich auf eine Mitkonfirmandin, die auch operiert wurde. Zum
13ten Mal wurden ihr die Knie gebrochen, der „Chef“ hoffte, er bekäme es schon so hin, dass das Mädel die Knie wieder bewegen könne! Es ist Ihm nicht gelungen. Was sich jedoch verändert
hatte, war, dass die Hüftgelenke auch noch steif geblieben sind.
Nach der Konfirmation, die ich dank der kurz zuvor überstandenen Operation auf Krücken absolvierte, kam ich in die Lehrwerkstätten. Eigenartigerweise wurde
mein Wissen viel besser beurteilt, was für mich bedeutet, dass ich vorher falsch beurteilt wurde. Es lag mit Sicherheit an den Lehrern Herr Welscher, im Betrieb Herr Schulz (Meister), Herr Wendt
(Werkstatleiter), Herrn Erich Heyer (Ausbilder). Sie behandelten uns als Menschen, und wenn sie bei einem Lehrling Schwächen bemerkten, wurde dort nachgeholfen. Ich hatte in der Schule bestimmt
Schwächen, nur hätte man mich dann fördern sollen, und nicht eine Verbesserung mit Strafarbeiten oder Schlägen versuchen zu erreichen. Ich bin mit besseren Schulnoten nach Volmarstein gekommen,
(5. Klasse) als ich gut 2 Jahre später entlassen wurde, ebenfalls aus der 5. Klasse (Mathe „4“.)
Auf Grund meiner katastrophalen Noten in meinem Abschlusszeugnis bekam ich keinen Lehrvertrag zum Spitzendreher, sondern hatte nur eine 2jährige
Anlernzeit ohne Gesellenbrief, was zur Folge hatte, dass ich weniger Geld erhielt. Ich habe dann 8 Jahre in Berlin als Spitzendreher in einem Werkzeugbau meine Arbeit zur vollsten Zufriedenheit der
Firmenleitung erledigt. Zu meiner Freude bekam ich einige Male Geldpreise für Verbesserungsvorschläge.
Also denke ich, dass ich nicht so dumm war, wie ich immer in der Grundschule in Volmarstein behandelt und benotet wurde. Zum Werken: Ich
habe in Berlin 2 Schiffsmodelle (ca. 1, 3 Meter lang und eben so hoch) mit der Laubsäge zurecht gesägt. Es waren Segelschiffe, bei der die Takelage und die Segel-Erstellung
eine Herausforderung waren.
Ich hatte mir früher schon eine Nähmaschine gekauft, weil ich mir meine Hosen enger gemacht und die Beine gekürzt habe (mit Umschlag).
Später habe ich noch 3 Großmodelle, ein Motorboot (1,6 Meter lang) und 2 Segler, in der Größe von 1,2 Meter. Im Motorboot habe ich viele elektronische Teile nach Schaltbildern selbst gefertigt.
Ich habe einen Windrichtungsanzeiger aufgemalt und hergestellt; ich hatte mehre Anfragen, um noch einige weitere anzufertigen, habe aber nur noch 2 Stück gemacht und für ca. 2000
DM verkauft, außerdem einen größeren runden Spieltisch, und einen Hochlehn-Sessel.
Ich führe dass nur an, um zu fragen: Warum habe ich „mangelhaft“ in Werken bekommen?
Ich habe mich mit 40 Jahren, weil ich mehr Geld verdienen wollte, zur Gesellenprüfung als Universalfräser angemeldet. Diese habe ich dann mit
der Note 1 (praktisch) und 3 (theoretisch) abgeschlossen. Danach habe ich mich zu Lehrgängen „CNC-Fräsen“ und „Drehen“ angemeldet, und sowohl den Grundkurs als auch den Aufbaukurs mit „gut“
bestanden. Etwas später habe ich dann eine Gruppe von 6 Mitarbeitern als Vorarbeiter geführt. So, und das alles, weil ich zu dumm zu allem gewesen sein sollte. Im letzten Jahr (ich bin 64) wurde ich gefragt,
ob ich nicht Lust hätte, eine CNC-Abteilung aufzubauen. Ich bin zur Ausstellung mitgefahren, wir haben eine Maschine mit der neuesten Steuerung gekauft. Dann bin ich zu einem 14tägigen Lehrgang gefahren und
habe auch diesen mit Erfolg abgeschlossen.
Ich schreibe dies, um verständlich zu machen, dass ich nicht so dumm und ungeschickt war und bin, wie die Lehrerinnen es mir immer wieder
vermittelten.
Fazit: Das mir entgangene Einkommen, die Differenz vom Facharbeiter zum Hilfsarbeiter hätte ich gerne von den dafür zuständigen Gremien. Für die
seelischen Schäden und für das lieblose Aufwachsen im JHH mit den oft zu harten Bestrafungen kann ich heute wohl kaum noch jemanden belangen. Hoffen kann ich nur, dass dieser Personenkreis am Ende
bereut hat, was er mit uns Kindern gemacht hat. Da wir „Im Namen des Herrn“ erzogen wurden, wird der Herr sie hoffentlich auch in ihrer letzten Stunde das erfahren lassen, was
wir die Jahre über ertragen mussten. Meine Frau fragte mich einmal: „Warum habt ihr euch nicht beschwert?“ Alle, die in dieser Zeit im JHH waren, wissen warum!
Iserlohn den 25. August 2008
Axel
Keine Weitergabe, Vervielfältigung, Nachdruck, Kopie oder Einsichtnahme ohne
Zustimmung des Verfassers.
|